Endlich in Hameln

Der Jeside Nouri Shani Baqi ist vor Islamisten geflohen. Es dauerte lange, bis er zu seiner Familie nach Deutschland kam

  • Ramon Schack
  • Lesedauer: 7 Min.

Nouri Shani Baqi liebt Hameln. Das betont er beim Rundgang immer wieder. In der Innenstadt herrscht reges Treiben. Das historische Stadtbild wird von der milden Septembersonne illuminiert. Sanierte Fachwerk- und Sandsteinhäuser aus der Renaissance-Zeit säumen die Straßen. Sie blieben von Weltkriegsbomben und Abrissbirnen des Wirtschaftswunders größtenteils verschont. Und doch hat sich die Kleinstadt in den letzten Jahren verändert – sie ist multikultureller geworden. Auch zahlreiche Jesiden aus dem Nordirak haben sich hier, im südlichen Niedersachsen, niedergelassen. So wie Nouri.

Natürlich hat er die politisch brisante Stimmung in Deutschland in diesem Herbst ebenso wahrgenommen wie die Angst vieler Menschen vor den steigenden Energiepreisen. Er selbst macht sich aber keine großen Sorgen. »Vielleicht liegt es daran, dass ich in meinen jungen Jahren schon Kriege, Völkermord und Flucht erlebt habe, sodass ich das Leben hier zu schätzen weiß.« Im Sommer ist der 24-Jährige nach Hameln zurückgekehrt. Hinter ihm liegen zwei harte Jahre, eine Odyssee, die er zusammen mit seiner Frau Alifa und seinem zweieinhalbjährigen Sohn heil überstanden hat. Über ein Jahr wurde er mit seiner kleinen Familie in einem Flüchtlingslager in Litauen festgehalten.

Jetzt wohnt Nouri in einem dreigeschossigen Haus mit großem Garten im Kreis seiner Familie. Neben Alifa und dem Kind leben dort noch seine Eltern sowie seine beiden Brüder, der ältere ebenfalls mit Frau und Kind. Eine Schwester hält sich noch in der Türkei auf. Zusammen mit ihrem Mann und Kind wartet sie auf die Überfahrt nach Griechenland. Auf diesem Weg ist auch der Rest der Familie 2014 geflohen, als im Nordirak der Völkermord an den Jesiden tobte. Man sieht dieser Familie, die sich zum Essen versammelt hat, das Erlebte nicht an. Vor allem Nouri nicht, der die Flucht nach Deutschland gleich mehrmals auf verschiedenen Wegen erlebt hat.

Nouris Vater erzählt davon, wie vor acht Jahren die Horden des Islamischen Staats in die jesidischen Regionen im Nordirak einbrachen, Tod und Verderben brachten, die Männer liquidierten, so diese nicht zum Islam konvertieren, und die Frauen als Sklavinnen degradierten und misshandelten. Er berichtet, wie sie auf die Berge flüchteten, nachdem sie ihre Dörfer verlassen hatten, während er sich mit den anderen Männern den anstürmenden Truppen des Islamischen Staats (IS) entgegenstellte. »Ich sah eine Frau zusammen mit ihrem Kind, die zu uns fliehen wollte, dann aber von einer Kugel des IS getroffen wurde. Das Kind lief weiter, wir konnten es retten.«

Auch die Kinder haben diese Erlebnisse nicht verdrängt. Der 17-jährige Bruder, der gerade eine Ausbildung zum Altenpfleger macht, berichtet: »Ich war zwar damals erst neun, aber nie vergesse ich, wie wir in den Bergen lebten, ohne Nahrung. Oder später die Flucht über die Balkanroute bis hierhin nach Hameln. Ich liebe Deutschland, hier kann ich meine Schule und Ausbildung absolvieren ohne große Probleme.«

Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit hat die Familie bisher nicht erlebt. Hameln sei eine tolerante Stadt, meint Nouri, der in der jesidischen Diaspora unter dem Künstlernamen Anwar als Sänger bekannt ist. »So viele Jesiden haben hier eine neue Heimat erhalten.« Ungefähr 200 Familien sollen es sein.

Am 3. August jährte sich der Genozid an den Jesiden im nordirakischen Shingal zum achten Mal. Da hat die Stadt auf dem Rathausplatz der Opfer der Massaker gedacht. Viele Jesiden wurden in Massengräbern verscharrt.

Vor vier Jahren kehrte Nouri noch einmal in die alte Heimat zurück, um seine Jugendliebe Alifa zu heiraten. Eine heikle Sache für Geflüchtete, denn eine Rückkehr birgt viele Gefahren. Doch Nouri ging trotzdem. »Die Reise war aber erfolglos, denn ihre Eltern wollten sie nicht ziehen lassen. Ich kehrte also wenige Wochen später nach Hameln zurück, arbeitete wieder als Kellner, verdiente Geld und wollte meine zukünftige Frau eines Tages zu mir nach Deutschland holen.«

Anfang 2020 war es dann so weit. Nouri flog wieder in den Irak, dieses Mal mit dem festen Vorsatz, Alifa mit nach Deutschland zu nehmen. Dazu kam es aber nicht. Die Angehörigen der jungen Frau verbrannten ihre Papiere, sodass an eine Ausreise nicht zu denken war. Die beiden zogen zusammen in die nächstgrößere Stadt Dohuk. Es war zu Beginn der Corona-Pandemie; der Reiseverkehr kam weltweit zum Erliegen und der im Nordirak erst recht. Das junge Paar bekam ein Kind, und Nouris vorläufiger Reisepass lief aus. Sie hatten in Dohuk eine gute Zeit. Wenn er zurückblickt, war es für ihn romantisch. »Eine Liebesgeschichte«, sagt er.

Die politischen und wirtschaftlichen Spannungen im Nordirak spitzten sich allerdings zu. Und er sah keine andere Wahl, als das Schicksal seiner kleinen Familie internationalen Schleuserbanden anzuvertrauen. Letztes Jahr im Sommer flogen sie nach Minsk, wo die belarussische Regierung Menschen aus aller Welt in Richtung EU weiterziehen ließ.

»Eines Tages wurden wir an die litauische Grenze gebracht, also an die EU-Außengrenze. Es war mitten in der Nacht, als man uns in Richtung Grenze führte. Da waren Bewaffnete mit Masken über dem Gesicht, die sehr gut Englisch sprachen und uns in Richtung Litauen trieben, aber vorher noch unsere Papiere und Mobiltelefone einkassierten.«

Zum Glück gelang es ihnen, das Smartphone von Alifa ins litauische Auffanglager zu schmuggeln. Damit konnten sie Kontakt nach draußen halten. Die Behörden versorgten die eintreffenden Flüchtlinge zwar rudimentär, hielten sich aber ansonsten damit zurück, den Menschen ihre Rechte zu erläutern oder gar Auskünfte über deren Zukunft zu erteilen. Viele Wochen lang wurden sie im Ungewissen gehalten. Statt mit seiner Frau und dem Kind zum Rest der Familie nach Hameln zu gelangen, saß Nouri mit seiner Familie wieder in einem Lager fest, zusammen mit 420 anderen Menschen. Niemand durfte es verlassen. Er selbst hatte die Hoffnung schon verloren, wieder nach Deutschland einzureisen. Alifa und das Kind hatten lediglich das irakische Flüchtlingscamp mit einem litauischen getauscht, ohne etwas anderes kennengelernt zu haben.

Doch in diesem Sommer wurde es einzelnen Geflüchteten gestattet, das Lager zu verlassen, um in einem nahen Kiosk Lebensmittel zu kaufen. Darunter auch Alifa mit dem Kind. Nouri nutzte die Chance, steckte ihr das ins Lager geschmuggelte Smartphone in die Tasche, nachdem er zuvor ein Taxi in die Nähe des Lagers bestellt hatte. Er gab ihr Geld mit und instruierte sie, mit dem Taxi in die Hauptstadt nach Vilnius zu fahren. Er selbst hatte zuvor einen jesidischen Geschäftsmann angerufen, der in Vilnius lebt und die Familie aufnehmen konnte.

Nachdem Alifa und sein Sohn gegangen waren, sprang Nouri über den Zaun des Flüchtlingslagers, denn auch er hatte sich ein Taxi bestellt, das wenige Minuten später eintraf. Nur wenig später als seine Frau und sein Sohn kam er in Vilnius an. Die nächsten Tage verbrachten sie in der Wohnung des Bekannten und organisierten die Weiterreise nach Deutschland. »Schließlich wurden wir mit einem Wagen direkt von Vilnius nach Hameln gefahren, quer durch Polen und Deutschland, und kamen hier an.«

Nouri bittet in den Garten. »Ich weiß, ich habe wirklich Glück gehabt – einen Schutzengel in meinem bisherigen Leben.« Er zeigt auf einen künstlichen Pfau, der in einer Rabatte steht. Das Symbol von Melek Taus, dem Engel Pfau, einer der insgesamt sieben Erzengel der Jesiden. »Wir haben den Islamischen Staat und die Flucht überlebt. Jetzt hoffe ich nur, dass meine Schwester und ihre Familie bald wohlbehalten hier eintreffen und dass ich wieder eine Duldung oder einen Aufenthaltstitel von der Ausländerbehörde erhalte. Meine Sachbearbeiterin dort wartet noch auf eine Rückmeldung vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Ich hoffe, es klappt alles.«

Das Amt prüft zurzeit, ob Nouri eine Duldung erhält, da er seinen letzten Asylantrag in Litauen gestellt hat. Im schlimmsten Fall droht seiner Familie die Abschiebung in die baltische Republik. Was für seinen Verbleib spricht, ist die Tatsache, dass ein Großteil seiner Familie schon in Hameln lebt, er selbst dort schon gelebt hat und fließend Deutsch spricht.

Während der Gedenkveranstaltung zum Genozid im vorigen Jahr überreichten Vertreter der Jesiden dem Hamelner Oberbürgermeister Claudio Griese eine Gedenkschrift, in der sie auf die katastrophale Lage in Shingal und auf das an den Jesiden begangene Unrecht aufmerksam machten. Der Integrationslotse Georg Geckler, der sich seit Jahren auch für die Religionsgemeinschaft in der Region einsetzt, forderte daraufhin, dass die Jesiden in Frieden in Deutschland leben sollten.

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