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Die Farben über Kurdistan
Mit dem nicht unheiklen Film »Nachbarn« startet am Donnerstag das Kurdische Filmfest in Berlin
Gemessen an der Menschheitsgeschichte im Ganzen ist der sesshafte Mensch eine sehr neue Erscheinung. Gerade mal 10 000 Jahre ist es her, dass die Gattung sich niederließ, um an einem Ort und einer Stelle Vieh- und Ackerwirtschaft zu treiben, und einer populären These des Evolutionsbiologen Josef Reichholf zufolge auch bloß darum, weil sich nur sesshafterweise Getreide fürs Bierbrauen anbauen lässt.
Mit der Sesshaftigkeit kam etwas in die Welt, was der nomadische Mensch nicht braucht: die Grenze. Wenn der sechsjährige Kurde Sero, der in den frühen achtziger Jahren an Syriens Grenze zur Türkei aufwächst, seinem Großvater zuhört, die türkischen Wachtürme im Blick, dann hört er, dass früher alle Kurden zusammen waren; dann kamen Engländer und Franzosen und zogen Grenzen. Seither leben Kurdinnen und Kurden als Minderheiten in Syrien, der Türkei, in Irak und Iran. Der erwachsene Sero lebt heute in der Türkei in einem Flüchtlingslager, und als ihm Besuch angekündigt und ein Foto ausgehändigt wird, erinnert er sich an seine Dorfkindheit unter Assad dem Älterem. Der Film »Nachbarn« ist diese Erinnerung.
Seros Heimatdorf ist für ihn die ganze Welt, und metaphorisch genug wünscht er sich nichts sehnlicher als einen Fernseher, um endlich wie die »Stadtkinder« Zeichentrickfilme sehen zu können. Im Dorf gibt es aber nicht einmal Strom; die Masten dafür gibt es seit Jahren, passiert ist weiter nichts, und so steht die Zeit hier weiter unter Öllampen still. Aber nicht das Fernsehen wird diese Idylle sprengen, sondern die Grenze, die am Dorf entlangläuft und die Bewohner, einander seit Ewigkeiten als Nachbarn vertraut, in ihrer Gewalt hat: Wer diesseits davon lebt, hat arabisch zu sein und arabisch zu sprechen, ob der Erstklässler Sero diese Sprache nun versteht oder nicht. Die letzte jüdische Familie harrt aus, während der neue Lehrer aus Damaskus die Dorfkinder anleitet, mit dem Davidstern gekennzeichneten Puppen den Kopf abzutrennen.
Die Grenze, deren nahöstliche Künstlichkeit die Willkür von Grenzziehung ins Licht rückt, ist die Gewalt selbst, wie sie über dieselben Menschen kommt, deren Sesshaftigkeit Grenzen erst eingeführt hat. Unter dieser Dialektik der Aufklärung beherrscht die Grenze die, die an (oder besser: unter) ihr leben, angefangen bei den bewaffneten Schreihälsen am Grenzübergang und deren faschistoid deformiertes Ego, und natürlich ist es das vermeintlich grenzenlose Judentum, das jenen nationalen Hass zur Raserei bringt, der des Grenzzauns so unbedingt bedarf. Die Grenze ist aber der Tod, und wenn Sero am Schabbat bei den jüdischen Nachbarn die Lampe entzünden darf, leuchtet ihm das, was ohne Grenze ist.
Der Film des Autors und Regisseurs Mano Khalil, auf dessen Kindheit »Nachbarn« beruht, scheidet zunächst das Private vom Politischen, eine Trennung, wie sie im unpolitischen Kind noch sinnfällig werden kann. Das Private, das ist das Haus, der Platz, das Dorf, wie sie im Winkel und gewissermaßen unberührt in der Landschaft liegen, die das Glück da verheißt, wo die einzige Grenze der Horizont ist. Auch das Fernsehen, von Sero so ersehnt, ist etwas Grenzenloses, und als es zum guten Schluss dann da ist, greift die Dialektik der Aufklärung abermals, wenn auch um einiges primitiver als in Adornos und Horkheimers Kapitel zur Kulturindustrie. Nachbarschaft, das zeigt Khalil ohne jedes Aufhebens, ist zugleich gesellschaftliche Ur- und instrumentierbare Feindbeziehung, und in zweierlei Hinsicht setzt der Film das multireligiöse kurdische Dorf mitten ins Grenzgebiet, ein Dorf, das es als kurdisches unterm arabisch-syrischen National-Sozialismus gar nicht geben soll. Ein Nicht-Ort also, und übersetzt heißt das Utopie.
So kann man es sehen; so muss man es nicht sehen. Zu Beginn des Films lassen Sero und sein Onkel Aram Ballons in den kurdischen Nationalfarben in den Himmel über der Grenze steigen, die von den türkischen Grenzern bis auf den roten, türkischen abgeschossen werden; Sero wird die fröhlichen kurdischen Ballons in Wasserfarben festhalten. Unter einem etwas weniger wohlwollenden Blickwinkel wäre das Dorf also weniger ein multikulturelles Utopia denn tatsächlich das Widerstandsnest, das Assads Geheimdienst, der Aram verhaften und foltern wird, in ihm vermutet, und sei’s allein darum, weil es, das macht der Großvater dem Lehrer klar, auf kurdischem Boden steht.
Die Palme, die der Lehrer als arabisches Symbol hat pflanzen lassen, geht denn auch in der ersten Frostnacht ein, und ob das jetzt nur die sympathische Niederlage des Hasses oder der bedenkliche Triumph des Autochthonen ist, gibt Khalil nicht zu verstehen. Je nach Geschmack lässt sich auch die Korruptheit der arabischen Beamten, die den braven kurdischen Familienvater bluten lassen, als Sittenbild oder Satire verstehen, und kurdische Beamte gibt es ja nicht. Es gibt im Dorf auch keine bösen Kurden, außer vielleicht Onkel Ali, aber den straft Gott.
Politisch ist »Nachbarn« auf eine meditative, freundlich suggestive, humorvolle Weise. Und wer dem ästhetisch makellosen Film übel will, mag ihn für unehrlich halten, insofern, als er nicht das per se gewalttätige Nationalgewese infrage stellt, sondern eher jenes, das das Kurdische davon ausschließt. Doch hier kommentiert sich der Film, bei aller Biografik ja ein Werk der Fantasie, gewissermaßen selbst, denn solange es einen kurdischen Staat nicht gibt, der sich – Ironie, Ironie – seinerseits über Grenzen definieren müsste, solange können seine Farben für einen Traum stehen, der, da sei Ulla Meinecke beigepflichtet, vorbei wäre, würde er Wirklichkeit.
»Nachbarn«: Schweiz, Frankreich 2021. Regie und Drehbuch: Mano Khalil. Mit: Serhed Khalil, Ismail Zagros, Jalal Altawil. 130 Minuten. Das Programm des Kurdischen Filmfestivals unter: https://kurdisches-filmfestival.de/
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