Ein hartnäckiger Provokateur

Boris Palmer stellt sich erneut zur Oberbürgermeister-Wahl in Tübingen. Diesmal als Parteiloser

Der großgewachsene junge Mann, der sein Rad durch die Tübinger Fußgängerzone schiebt, möchte nicht über Kommunalpolitik reden – am Wahlkampfstand von Boris Palmer lässt er sich aber dennoch auf ein Gespräch mit einem von dessen Wahlkampfhelfern ein. Über die Rhetorik des Oberbürgermeisters, der einige Meter weiter mal wieder ein TV-Interview gibt, will er nämlich durchaus reden. Und über dessen »Ausfälle gegen Geflüchtete.« Ja, er werde am 23. Oktober zur Wahl gehen, sagt er. Palmer werde er dann nicht wählen. »Ich bin mit seiner Politik meist einverstanden, aber in die Debatten hier muss wieder eine andere politische Kultur rein«, sagt er. Ähnlich äußert sich kurz darauf eine ältere Dame. Viele andere Passanten, die sich auf einen Smalltalk einlassen, recken hingegen im Vorbeigehen den Daumen oder brechen das Wahlgeheimnis: »Meine Stimme haben Sie.«

Die halbe Stunde als stiller Beobachter ist durchaus repräsentativ, wie die anschließenden Stunden in den fast schon penetrant schönen Tübinger Altstadtgassen mit ihren Antiquariaten und inhabergeführten Läden zeigen: Wenn sich seine beiden Gegenkandidatinnen Sofie Geisel (SPD) und Ulrike Baumgärtner (Grüne) Chancen ausrechnen, den bundesweit bekannten Amtsinhaber zu besiegen, dann weil viele Tübingerinnen und Tübinger einen anderen Politikstil wollen und Palmers Ausfälle satthaben. Die sind auch der Grund, warum die Partei, der Palmer seit 1996 angehört, ihn am liebsten rauswerfen würde. Gegen ihn läuft ein »Parteiordnungsverfahren« mit dem Ziel des Ausschlusses. Vor Ort an der Parteibasis kommt das deutlich weniger gut an als in Stuttgart oder Berlin, wo die Parteiführungen schwer genervt waren von den schlagzeilenträchtigen Talkshow-Auftritten des schwäbischen Enfant terrible. CDU und FDP verzichten derweil auf eigene Kandidaturen in Tübingen. Die einstige »Baden-Württemberg-Partei« CDU gibt damit erneut von vorneherein eine Großstadt verloren. Wie viele Sympathisanten der Union ihr Kreuz bei Palmer machen, gehört zu den spannenden Fragen dieses Wahlkampfes.

Tatsächlich hat der Mann, der mit 34 Jahren als damals jüngster Oberbürgermeister des Landes gewählt wurde, in den vergangenen Jahren mehr Angriffsfläche geboten als alle seine Parteifreunde zusammen. 2015 forderte er, die EU-Außengrenzen notfalls bewaffnet zu sichern – in klassischer AfD-Diktion. Wie ressentimentgeladen Palmer zuweilen in Migrationsfragen argumentiert, zeigte kurz darauf ein Post über einen Radfahrer, bei dem unklar blieb, was ihm bemerkenswerter schien: dessen angeblich rücksichtsloses Verhalten oder die Tatsache, dass der junge Mann nicht nur mit nacktem Oberkörper unterwegs war, sondern auch noch schwarzer Hautfarbe war. Beim Versuch, sich zu rechtfertigen, wurde es noch absurder. Er wette, schrieb Palmer, »dass es ein Asylbewerber war. So benimmt sich niemand, der hier aufgewachsen ist, mit schwarzer Hautfarbe. Das wäre völlig missglückte Integration.«

Völlig missglückt war jeweils Palmers Kritik an den Corona-Maßnahmen. »Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären«, sagte er. Und schien danach mal wieder aufrecht verwundert, dass ihm eine menschenverachtende Sprache unterstellt wurde. Seine Twitter-Manie (die er fast völlig eingestellt hat) kreiden ihm dann auch Menschen an, die ihm so wohlgesonnen sind wie Rezzo Schlauch. Der einstige Ober-Realo der Grünen, der ihn im Ausschluss-Verfahren anwaltlich vertritt, hält Palmer hier für regelrecht verhaltensauffällig. Dass er ständig auf Sendung sei, sei »Ausdruck der Überzeugung von sich, seinem missionarischen Impetus«, meint Schlauch.

Fraglos ist Palmer ein leidenschaftlicher Provokateur, dessen Ego mit dem Widerspruch zu wachsen scheint. Das würde Palmer, der sich in den vergangenen Jahren oft als verfolgte Unschuld stilisierte, vielleicht nicht einmal bestreiten. Andererseits: Lebt Politik nicht vom Streit? Zumindest dann, wenn der mit Argumenten statt mit Polemik ausgetragen wird? Und: Gibt es gerade nicht viel zu viel zu tun, um ausschließlich über Stilfragen zu sprechen? Palmer findet das ganz entschieden und erweist sich im Wahlkampf als faktensicher: Egal, ob es um den sozialen Wohnungsbau oder um die Windkraft geht, der Mann hat die Zahlen für die 90 000 Einwohner zählende Stadt parat. Und ist ungeschickt genug, es den Konkurrentinnen zentimeterdick aufs Brot zu schmieren, wenn das bei ihnen einmal anders ist.

Unnötig zu erwähnen, dass auch in Tübingen die örtliche linke Szene den Mann von Herzen verachtet. Es gibt eine Wahlinitiative gegen Palmer, die auch der katholische Sozialtheologe Matthias Möhring-Hesse unterstützt. Größer ist allerdings die Pro-Palmer-Initiative mit mehr als 1000 Mitgliedern, darunter viel lokale Prominenz aus allen Bevölkerungsschichten. Auch stadtbekannte Grüne machen hier Werbung für den Mann, der nun als Parteiloser kandidiert und seine Grünen-Mitgliedschaft bis Ende 2023 ruhen lässt.

Die Grünen schicken mit Baumgärtner eine eigene Kandidatin ins Rennen. Die einstige Mitarbeiterin von Palmer, die schon in den Jahren vor der Eskalation kein gutes Verhältnis mehr zu ihm hatte, war in einer Urwahl von 149 Personen gewählt worden. 103 stimmten gegen sie, dabei gab es keinen Gegenkandidaten. Das maue Ergebnis interpretierte sie wohl zu Recht als Votum pro Palmer, nicht als Ablehnung ihrer Person. Die »Alternative Liste«, die im Gemeinderat mit den Grünen eine gemeinsame Fraktion bildet, unterstützt Palmer offen, auch der größte Teil der eigentlichen Grünen-Fraktion hat nicht mit ihm gebrochen. Überhaupt bestreitet in Tübingen kaum jemand, dass Palmer regelrecht arbeitswütig ist und die letzten 16 Jahre für den ökologischen Umbau der Stadt genutzt hat.

Auch Herausforderin Geisel beginnt ein Fernsehinterview überraschenderweise mit der Feststellung, sie glaube, »dass in dieser Stadt gute Politik gemacht worden ist«. Tatsächlich wurden die CO2-Emissionen pro Kopf innerhalb von 15 Jahren um mehr als 40 Prozent reduziert, längst wäre auch Einweggeschirr verboten, doch im Streit zwischen Palmer und McDonald’s gaben die Gerichte dem Multi recht. Palmer investierte in die öffentliche Daseinsvorsorge, baute das Bus- und Radwege-Netz aus und sanierte dennoch die kommunalen Finanzen – auch indem er die Gewerbesteuereinnahmen verdoppelte. Nun, im Wahlkampf, hat Palmer angekündigt, es würden künftig keine Neubauten mehr genehmigt, auf denen kein Solardach steht.

All das finden auch Geisel und Baumgärtner nicht kritikwürdig, überhaupt lassen sich inhaltliche Unterschiede zwischen den dreien nur schwer benennen. Am ehesten gibt es die noch in der Wohnungspolitik, wo SPD-Frau Geisel angesichts von rund 1000 Neubürgern pro Jahr ein Neubaugebiet mit 50 Prozent sozialem Wohnungsbau ausweisen möchte, während Palmer die Überschüsse der Stadtwerke in einen Solidarfonds für günstige Wohnungen leiten will. Andere Versuche, sich vom Amtsinhaber abzusetzen, wirken eher verzweifelt. Baumgärtner versprach gerade die Absenkung der Grund- und Gewerbesteuer, was, wie Palmer genüsslich vorrechnet, vor allem den wohlhabendsten Unternehmen der Stadt per Gießkanne eine Steuerersparnis in Höhe von 15 Millionen Euro verschaffen würde.

In den Untiefen der Kommunal- und Steuerpolitik ist Palmer also nur schwer beizukommen, umso aussichtsreicher erscheint es, seinen Politikstil ins Visier zu nehmen und darauf zu hoffen, dass eine Mehrheit der Wähler genau deshalb so etwas wie Wechselstimmung empfindet. So bringt Geisel derzeit Plakate im Regenbogen-Look an, auf denen »24 Jahre? Tübingen braucht den Wechsel« steht. Es ist eine Anspielung darauf, dass Palmer, sollte er wiedergewählt werden, am Ende seiner dann dritten Legislatur fast ein Vierteljahrhundert Tübinger Oberbürgermeister wäre. Allerdings ist das Problem an Palmer gerade nicht, dass er die Stadt ideenlos verwalten würde, und der 50-Jährige, der da ein paar Meter neben dem SPD-Plakat mit einer älteren Frau plauscht, wirkt alles auch alles andere als amtsmüde.

Erfolgversprechender dürfte es da schon sein, sich als kommunikatives Gegenprogramm zum polternden und konfrontativen Amtsinhaber zu präsentieren: »Meine Vision für Tübingen ist eine grüne und gerechte Stadt – gestaltet durch einen Politikstil, der die Menschen zusammenführt«, schreibt Baumgärtner. Und Geisel zeigt sich mit verschränkten Armen und dem Slogan »Führen ist eine Stilfrage.« Dass sie »länger als in der SPD nur in der evangelischen Kirche ist«, muss die temperamentvolle Frau mit dem ansteckenden Lachen nicht extra betonen. Wie auch bei Baumgärtner geraten ihre Reden zuweilen etwas pastoral – und zumindest das ist etwas, das man dem Provokateur Palmer nun wirklich nicht vorwerfen kann. Geisel, die Palmer seit gemeinsamen Uni-Tagen duzt, findet, der habe »vor allem ein Thema sehr stark besetzt«, doch selbst bei der Benennung dieses »einen Themas« bleibt sie im Unbestimmten. So vage formuliert die Frau, die »bestimmte Dinge ein bisschen anders machen will«, häufig. »Wie können wir den Verkehr so organisieren, dass die Stadt nicht im Verkehr erstickt?«, fragt sie. Die Antwort wäre interessant gewesen.

Wobei das Kalkül, jede polarisierende Aussage zu vermeiden, durchaus aufgehen könnte. In Freiburg, dem doppelt so großen badischen Pendant der bürgerlich-württembergischen Unistadt Tübingen, hat genau diese Taktik zur Abwahl eines Oberbürgermeisters geführt, der bis dato als unanfechtbar gegolten hatte. Hier setzte sich mit Martin Horn ein Kandidat auf dem SPD-Ticket fast ausschließlich mit der Erzählung durch, er sei kommunikativer und weniger rechthaberisch als der langjährige Amtsinhaber Dieter Salomon. Salomon selbst hat das auch als Beweis dafür genommen, dass die Zeiten gerade eher unpolitisch sind.

Dass er damit nicht ganz unrecht haben könnte, zeigt ein zufällig belauschtes Gespräch auf der sonnenbeschienenen Terrasse des »Café Ranitzky« gegenüber vom historischen Rathaus. Eine Studentin sitzt dort mit ihren Eltern und alle drei preisen die ästhetischen Reize der Stadt, als Grünen-Kandidatin Baumgärtner ihren Wahlkampfstand aufbaut. Die werde sie wählen, versichert die junge Frau. Und gibt auf Rückfrage der Mutter, wie denn deren Programm sei, eine erstaunliche Antwort: »Weiß ich nicht. Aber ich habe Bilder von ihr gesehen und sie ist von den Grünen. Das reicht mir.« Baumgärtner selbst sagt, sie spüre viel Zustimmung. Doch an ihrem Wahlkampfstand gehen viele Menschen vorbei, die freundlich abwinken. »Wir haben uns schon entschieden«, sagt ein Mittvierziger. Sein Blick deutet darauf hin, dass das keine gute Nachricht für die Palmer-Gegnerin ist.

Der Amtsinhaber hat derweil angekündigt, er werde für einen zweiten Wahlgang nicht zur Verfügung stehen, wenn er nicht mit den meisten Stimmen aus dem ersten hervorgehe. Doch so weit, meint er, müsse es ja gar nicht kommen. »Mein graues Haupthaar zeigt, dass ich 50 bin«, sagt er am Schluss seiner Vorstellungsrede. »Nach der Gemeindeordnung habe ich damit Anspruch auf Sofortpensionierung, wenn ich nicht wiedergewählt werde. Ich glaube, es wäre schwäbischer und klüger, mich noch mal acht Jahre für mein Geld schaffen zu lassen, als mich abzuwählen.«

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