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Sehr sendungsbewusst
Die BBC wird 100 Jahre alt. Die Rundfunkanstalt bleibt ein Deich gegen die Fluten von Fake News – was der konservativen Regierung nicht gefällt
Die älteste öffentlich-rechtliche nationale Rundfunkanstalt der Welt ist schon fast volljährig, als ihr Hauptsitz in London erstmals Feindberührung hat. Im Zweiten Weltkrieg, drei Tage vor dem Gründungstag der BBC, geht am 15. Oktober 1940 eine deutsche Fliegerbombe über dem Rundfunkgebäude nieder. In der fünften Etage werden Studioräume zerstört. Sieben Menschen sterben. Die Nine O’Clock News kommen glimpflich davon, sie werden aus dem Keller gesendet. Ihr Sprecher Bruce Belfrage meistert die Lage mit britischem Gleichmut: Nach einer kurzen Funkstille spricht er die Nachrichten zu Ende, mit Putz bedeckt, im vorgeschriebenen Dinnerjackett mit Fliege, Gips und Ruß vom Papier wischend. Er spricht sie wie stets mit vornehmen flaumigen Ton.
Die BBC hat Programme und Moderatoren mit Ikonenstatus hervorgebracht. Die Seifenoper »The Archers« ist die am längsten laufende Radioserie der Welt. Sie wird seit 1951 ausgestrahlt und bis heute im nationalen Programm. Das am längsten laufende BBC-Radioprogramm überhaupt aber sind die Schiffsmeldungen. Begonnen 1928 – kein Ende in Sicht. Den BBC-Fernsehrekord hält die Serie »EastEnders«, ausgestrahlt seit Februar 1985. Gedacht als Gegenstück zu »Coronation Street«, das seit 1960 beim privaten Sender ITV läuft, übertraf sie diese Serie in den 80er und 90er Jahren. Mit 30 Millionen Zuschauern am Weihnachtsabend 1986 erreichte sie die höchste Zuschauerquote für eine Sendung dieser Art in der britischen TV-Geschichte. Ikonen der Radio- wie TV-Geschichte sind Moderatoren wie Sue MacGregor, Jenni Murray, Terry Wogan, John Humphrys, Alistair Cooke, Esther Rantzen, John Peel, Valerie Singleton, Jeremy Paxman oder Annie Nightingale. Letztere (82) ist die am längsten tätige Radiomoderatorin. Zu besonders altgedienten Presentern zählen zudem Sir David Attenborough (96), der zahllose Naturdokumentationen von Weltgeltung schuf, und David Dimbleby (83), der seit Jahrzehnten ein Star der Politberichterstattung ist. Jüngst moderierte er für BBC One die Beisetzung von Queen Elizabeth II. in Windsor.
Die British Broadcasting Company wird am 18. Oktober 1922 gegründet. Lizenzgeber ist die Postbehörde, also der Staat. Vier Wochen später wird aus einem Londoner Studio das erste Programm ausgestrahlt. Nur wenige Tausend hören am 14. November abends um sechs durchs Rauschen im Äther die Worte: »Hier ist die British Broadcasting Company. Bitte schenken Sie uns eine Minute Gehör!« Es folgen Kurznachrichten und Wetterbericht, beim zweiten Vorlesen langsam vorgetragen, damit Hörer Notizen machen können. Bis 1925 wird der Empfangsbereich fast auf ganz Britannien ausgedehnt. Medienhistoriker David Hendy schreibt in seinem dieses Jahr veröffentlichten Buch »The BBC: A Century on Air«, ohne diese Rundfunkanstalt sei England unmöglich zu verstehen. Sie habe »in der nationalen Psyche einen mystischen Platz inne«. Zu ihren Begründern gehören idealistische Weltkriegsveteranen, die mit dem neuen Medium Radio »eine neue Kultur der Gemeinsamkeit« schaffen wollen, indem sie den Zuhörern »nicht unbedingt boten, was diese wollten, sondern was sie erfahren sollten«.
Dem ersten Intendanten John Reith schwebt ein Sender vor, der neben Bildung und Information auch Unterhaltung bietet, dabei aber von Regierung und Werbung frei sein soll. Eine ballaststoffreiche Kost aus erzähltem Theater, Konzerten und Vorträgen. Finanziert durch Rundfunkgebühren und aus dem Verkauf von Radiogeräten. Gibt es Ende 1922 bei vier Angestellten gut 35 000 Empfangsgenehmigungen, sind es Ende 1926, vor Umwandlung in die heutige Corporation, schon 2,5 Millionen Gebührenzahler.
Am Mikrofon wurden die Sprecher gewarnt: »Wenn Sie niesen oder mit Papier rascheln, werden Sie TAUSENDE TAUB MACHEN!!!«. Auch das Publikum wurde belehrt: »Damit Ihre Gedanken beim Hören nicht abschweifen, könnten Sie es als vorteilhaft empfinden, das Licht auszuschalten oder sich fünf Minuten vor Programmbeginn in Ihren Lieblingssessel zu begeben. Vor allem denken Sie daran: Wenn Sie nur halb zuhören, haben Sie nicht zu einem Viertel Recht auf Kritik.« Bevormundungen wie diese begründen den Anfangsruf der BBC, etwas hochnäsig und einschläfernd zu sein.
Anders als die Nazi-Propaganda sind die Nachrichten der BBC den nüchternen Tatsachen verpflichtet. Die Nachrichtenredaktion kann sich auf ein immer größeres Netz eigener Korrespondenten in der ganzen Welt stützen. Im Zweiten Weltkrieg meldet sich die BBC mitunter auch aus sicheren Villen irgendwo in der Countryside mit der Ansage »This is London«. Das Glockenspiel von Big Ben vor den Nachrichten ist das Markenzeichen. Den Anspruch formuliert Nachrichtenchef Robert T. Clark: »Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, auch wenn die Wahrheit schrecklich ist.« Fünfzig Jahre später ist es ein BBC-Journalist, Afrika-Reporter Michael Buerk, der quasi als erster die Welt über eine Hungersnot biblischen Ausmaßes in Äthiopien alarmiert. Das führt 1985 unter anderem zu Bob Geldofs Live Aid-Kampagne und dem legendären Benefizkonzert »Feed The World« im Wembley-Stadion, angeregt und übertragen von der BBC.
Im Zweiten Weltkrieg kann der Empfang des »Feindsenders« für deutsche Hörer die Todesstrafe bedeuten. Der German Service war 1938 als Reaktion auf das Münchner Abkommen eingerichtet worden. Später sprechen hier »deutsche Kriegsgefangene zur Heimat«, darunter unter anderem Karl-Eduard von Schnitzler. Im Oktober 1940 hat der Sender eine Premiere: Thomas Mann, seit 1938 in den USA, hält die erste seiner 58 »Kriegsreden«. Zu den Ansprachen, die bis Mai 1945 übertragen werden, bittet ihn die BBC. Unter dem Titel »Deutsche Hörer!« – so beginnt der Nobelpreisträger jede Ansprache – sind sie später als Buch erschienen.
Für Charles de Gaulle, Frankreichs späteren Präsidenten, haben Britannien und die BBC mit Kriegsbeginn lebensrettende Bedeutung. Als die Nazis im Juni 1940 Frankreich demütigen, fliegt der junge General von Bordeaux nach London. Dort findet er Schutz und hält am 18. Juni 1940 eine Rundfunkrede, in der er eine französische Widerstandsbewegung ankündigt, die spätere Résistance.
Nach dem Krieg wurde die BBC das Vorbild des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Bundesrepublik. Als öffentliche Körperschaft hat die Anstalt eine eigene Satzung (Royal Charter), die sie ausdrücklich jenseits direkten politischen Einflusses stellt. Andererseits gehört das Einvernehmen mit der Regierung zu den Kernaufgaben der Sender-Leitung. Über die Jahrzehnte hinweg haben der Vorsitzende und der Intendant gängelnden Einflüsterungen der Regierung mehr oder weniger gut widerstanden. Erspart geblieben ist die parteipolitische Besetzung wichtiger Funktionen, wie sie in Deutschland und Österreich üblich ist. Und während sich Deutschland heute den teuersten öffentlich-rechtlichen Rundfunk der Welt leistet, kommt die BBC mit der Hälfte aus.
Doch Kungelei hat es auch bei der BBC gegeben. Der britische Generalstreik 1926 ist ein gutes Beispiel: Der Streik blockiert alle Medien – außer den Rundfunk. Das gibt dem Radio erstmals politisches Gewicht. Im Streik gelingt es Intendant John Reith, das Vertrauen seiner Hörer dadurch zu gewinnen, dass er ihnen als neutraler Berichterstatter erscheint. Dabei entgeht dem Publikum mangels alternativer Quellen, dass die Regierung Reith nur deshalb weiter Sendeaufträge erteilt, weil der ebenso wie sie den Streik ablehnt. Zudem weiß das Publikum nicht, dass Reith Vertretern der Labour Party keine Chance zur Stellungnahme einräumt. Medienhistoriker sehen hier die Geburtsstunde moderner britischer Propaganda: Berichterstattung in einer Art, die öffentlich die Illusion der Neutralität erzeugt – obwohl davon beim Generalstreik keine Rede sein konnte.
1929 ist die BBC bereits so populär, dass sich Rivalitäten mit etablierten Medien einstellen. 1932 startet sie Kurzwellensendungen und beginnt 1936 mit der ersten regelmäßigen Fernsehausstrahlung. Auch der Stil lockert sich und trägt breiteren Hörerkreisen Rechnung. Grenzen indes bleiben. Über Jahrzehnte meidet die BBC Fluchwörter wie »bloody« (verdammt) oder »bugger« (Mist). Ein interner Stilführer untersagt Witze über Toiletten, »Weichlichkeit bei Männern« und »Anzüglichkeiten« bei Stichworten wie Zimmermädchen, Prostitution oder Damenunterwäsche.
Ein Meilenstein ist die Einrichtung des »World Service« im Dezember 1932. Der zunächst »Empire Service« genannte Sender nutzt die neue Kurzwellentechnologie, die Signale über Riesenentfernungen erlaubt. Der Sendestart am 19. Dezember präsentiert einen globalen Kolonialherrn: Millionen Untertanen hören erstmals die Stimme »ihres« Herrschers, King George V. Anfang 1938 richtet der World Service die erste Fremdsprachensendung ein – in Arabisch. Mit der Wahl des Sprechers beweist die BBC ihr Gespür für raffinierten Journalismus. Ahmad Kamal Sourour Effendi vom ägyptischen Rundfunk wird zur Stimme der BBC gemacht, und der, mit seiner Prominenz im arabischen Raum, macht den World Service zur Institution auch fern der Britischen Inseln. Im Weltkrieg wird der World Service, offiziell nun Overseas Service, stark ausgebaut. Bei Kriegsende sendet er in über 40 Sprachen.
Der Kalte Krieg stellt die Anstalt vor neue Herausforderungen. Ihr Ehrgeiz, Dissidenten und alternative Quellen Suchende im sowjetisch kontrollierten Osteuropa mit für sie sonst unerreichbaren Infos zu versorgen, stößt auf drakonische Maßnahmen der Herrschenden jener Länder, die genau dies verhindern wollen. BBC-Journalisten gelten in Prag und Warschau, Ostberlin und Moskau als eine Art Gefahrengut, vor dem die Politik meint, die Bevölkerung schützen zu müssen. Die Berichterstattung mit Tatsachen wird von Diktatoren auf der ganzen Welt gefürchtet, von Gegängelten geliebt.
Ein besonderes Kapitel im Propagandakrieg im Kampf der Systeme ist die Sendung »Briefe ohne Unterschrift«, die von 1949 bis 1974 im Deutschen Dienst für Hörer in der DDR läuft. Darin werden Briefe verlesen, die meist junge Absender aus dem Osten anonym über Westberliner Deckadressen an den Sender schicken. Die politische Idee der Sendung, die im Auftrag des britischen Außenministeriums läuft, ist klar: London will die Attraktivität des kapitalistischen Westens durch das Bloßlegen der Schwächen des sozialistischen Ostens belegen. Die Ostpost bietet den Londonern viel Material, um die Probleme in der DDR und den lange Zeit plump-repressiven Umgang mit ihnen zu skandalisieren. In der DDR löst die Sendung erwartbare Reaktionen aus. Mit Adressfahndung, Speichel- und Blutproben werden die Autoren bestimmter Handschriften gesucht, die die Staatssicherheit abfing. Manch einer wird eingesperrt.
Nach dem Mauerfall verschieben sich erneut Prioritäten. Mehrere osteuropäische Sprachprogramme werden eingestellt, die für andere Regionen ausgebaut. 2008 beginnt ein erweitertes Fernsehangebot auf Arabisch, ein Jahr darauf auf Farsi, das im Iran und Afghanistan gesprochen wird. Der World Service, seit 1965 heißt er nun auch so, nutzt die technologische Revolution. Smartphones und andere intelligente Geräte schaffen neue Möglichkeiten, auf die die BBC reagiert.
Seriöse Berichterstattung aus Krisengebieten bleibt eine Stärke der BBC, wenn es aktuell um Afghanistan, Syrien oder Russlands Krieg in der Ukraine geht. Und wie zu Zeiten, als die Anstalt gegen die Nazis oder gegen Info-Maulkörbe in Osteuropa mobil machte, ist die BBC für ihre Nutzer dann am besten, wenn sie getreu einem Motto George Orwells berichtet. Der Weltsender zeigt dessen Ausspruch, über Orwells Statue eingemeißelt, im BBC Broadcasting House in London her: »Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann bedeutet sie das Recht, Menschen das zu sagen, was sie nicht hören wollen.«
Beispiel Afghanistan: Die Taliban sperren im Frühjahr den Empfang von BBC-Nachrichten auf Paschtu, Farsi und Usbekisch. Nachdem Proteste ergebnislos bleiben und der Chef des Sprachen-Dienstes von BBC World, Tarik Kafala, erklärt, bis zur Blockade hätten jede Woche über sechs Millionen Afghanen die TV-Infos genutzt, kann die BBC im Juni mit einem neuen Satelliten den Service in den drei Landessprachen wiederherstellen. Beispiel Russland: Wie sehr dem Sender vertraut wird, zeigen nach dem Überfall auf die Ukraine die Rekordzugriffszahlen bei den russisch- und ukrainischsprachigen Seiten. Die russische Website verdreifacht ihren Wochenschnitt, in Englisch steigt die Zahl der russischen Besucher um 252 Prozent.
Und dennoch: Zum Jubiläum wird die BBC für ihre journalistische Seriosität weiterhin geachtet – aber unternehmerisch herausgefordert wie nie. Als eine globale Marke, mit der sich in Britannien nur Shakespeare, Königshaus oder Beatles messen können, wird die Anstalt seit Langem vor allem von den konservativen Regierungen in London in lachhafter Weise der Linkslastigkeit beschuldigt und mit finanziellem Mittelentzug bedrängt. Eine drastische Schrumpfkur bedroht die Bandbreite des Angebots, zu dem seit Jahrzehnten nicht zuletzt die neun von ihr unterhaltenen Orchester sowie unzählige Tier- und Naturdokumentationen von Weltformat gehören.
Der vielleicht größte Schaden indes droht der »Beeb« längerfristig durch den technologischen Wandel und neue Nutzerneigungen: Junge Konsumenten leben sich in den (gar nicht so sehr) sozialen Medien beziehungsweise bei Amazon oder Netflix aus. Das macht die BBC zur Hochburg älterer Hörer und Zuschauer. Andererseits besitzt sie einen Schatz: ihre Glaubwürdigkeit. Bis zu 70 Prozent der Briten halten die BBC für glaubwürdig, ein Wert, an den keine vergleichbare Medienorganisation annähernd heranreicht.
In der »Süddeutschen Zeitung« schrieb der frühere BBC-Korrespondent Misha Glenny: »Wir, die wir für die BBC gearbeitet haben, glauben nach wie vor fast ausnahmslos an das bewährte Modell eines öffentlich finanzierten Senders, der redaktionell unabhängig von der Regierung agiert. Dieses Modell bildet in unserer Medienlandschaft eine Art Deich, dessen Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann.« Ein Deich gegen die Fluten von Fake News, die in den USA den öffentlichen Diskurs ruinieren. Fake News seien ein Gift, das aber »in Großbritannien bisher noch in einigermaßen beherrschbaren Mengen kursiert«, wie Glenny meint. Und die Publizistin und Mitarbeiterin des World Service Esther Soliman sagte »nd«: »Wir haben großes Vertrauen in die BBC und ihre Zukunft. Wir tun alles, um sicherzustellen, dass sie auch künftig für das britische wie das weltweite Publikum in der allerersten Reihe spielt.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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