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- Serie "Die Welt von morgen"
Als Hip-Hop Französisch lernte
Die Serie »Die Welt von morgen« zeigt viel Subkultur und ein Land, das schon 1983 nach rechts abdriftete
Wenn das Bürgertum musikalische Revolten früherer Tage würdigt, ist das in der Regel kein gutes Zeichen für deren heutige Kraft zur Veränderung. Rock’n’Roll zum Beispiel, bis in die Swinging Sixties als Blasphemie verteufelt, wird öffentlich von Thomas Gottschalk gehuldigt. Insignien des staatsfeindlichen Punks finden sich auf Massenmode marktbeherrschender Labels. Techno ist vom Soundtrack der Zügellosigkeit in den Volksschlager geraten, Heavy Metal zur Wochenendrebellion für Sparkassenlehrlinge verkommen. Und da war noch nicht mal vom afroamerikanischen CNN die Rede: Hip-Hop.
Vor mehr als 40 Jahren in den Ghettos von L.A. und New York City als afroamerikanische Antwort auf weißen Rockpunktechnometal angemischt, sind Rapper längst die Einkommensmilliardäre des Pop. Doch wie weit der Weg dorthin war, wie steinig, kreativ und schmerzhaft, ist Gegenstand einer Serie, für die man frankophone Menschen nur beneiden kann: »Die Welt von morgen«. Gemeinsam mit Netflix geht Arte darin den Ursprüngen der französischen Sprechgesangskultur auf die Spur. Und zumindest das Original saugt sein Publikum souverän zurück in die frühen Achtziger.
Um kein neues Klagelied übers übliche Synchronisationsdesaster anzustimmen: Selbst in deutscher Fassung ist der Sechsteiler nicht nur sehens-, sondern auch hörenswert. Geschildert wird darin schließlich die Entstehungsgeschichte einer Band, die hierzulande eher Eingeweihten bekannt sein dürfte, in Frankreich dagegen Kultstatus genießt: NTM. Das steht für »Nique Ta Mère«, was auf Deutsch »Fick deine Mutter« heißt. Klare Kante also, die die Regisseur*innen Katell Quillévéré und Hélier Cisterne zum Glück mit feiner Klinge zuschneiden.
Nach eigenem Drehbuch lassen die beiden Regisseur*innen das Saint-Denise von 1983 an Originalschauplätzen wieder auferstehen und verbieten sich dabei jeden Firlefanz, der zeitgeschichtliches Reenactment meist museal, anstatt stimmig wirken lässt. Der realexistierende Funk-DJ Daniel Bigeault (Andranic Manet) bringt darin von einer US-Reise seine Leidenschaft für amerikanischen Rap mit und verhilft ihm unterm Nom de Guerre Dee Nasty auch in seiner Heimatstadt auf die Sprünge.
Er klaut finanziell unerschwingliches Equipment, mixt mit Gleichgesinnten erste Hip-Hop-Tracks auf Französisch, veranstaltet rasant wachsende Hinterhofpartys und steuert damit unaufhaltsam Richtung subkultureller Erfolgsgeschichte, an der die legendären Motherfucker Bruno Lopes (Anthony Bajon) und Didier Morville (Melvin Boomer) gehörigen Anteil haben. Bevor sie als NTM-Rapper Joey Starr und Kool Shen zu Ikonen ihrer Szene werden, sind allerdings sechsmal 50 Minuten Hindernisse zu überwinden, die sich gehörig vom hiesigen Pendant unterscheiden.
Erst vorigen Mai nämlich hatte Warner TV die Ursprünge des deutschsprachigen Raps mit der hinreißenden Serie »Almost Fly« rekapituliert. Ein humorvolles Stück popkultureller Selbstermächtigung, das dank der fiktiven Geschichte jedoch alle Freiheiten einer glaubhaften Groteske genießt. »Die Welt von morgen« dagegen basiert auf Archivmaterial und Aussagen leibhaftiger Akteure, die in einer weitaus raueren Umgebung als der pfälzischen Provinz aufgewachsen sind.
Bevor sich die drei Pariser Pioniere aus ihrer Vorstadthölle Richtung Olymp befreien, der auch im Staffelfinale noch in einiger Ferne liegt, kriegen sie es daher mit prügelnden Vätern und drogensüchtigen Kumpels, Kriminalität und dem Aufstieg des rechtsextremen Front National von Jean-Marie Le Pen zu tun, dessen Tochter Marie knapp 40 Jahre später kurz vorm Einzug in den Elysée-Palast stand und damit belegt, was der Serientitel alles abseits der Musik beinhaltet. Trotz solcher gravierender Aufstiegsbarrieren, die am Ende der dritten Episode in einer willkürlichen Polizeigewaltorgie gipfeln, beschränken sich die Regisseure aber nicht darauf, dystopische Ansichten brennender Vorstädte zu reproduzieren.
Der leicht linkische Vokuhila-Rapper Bruno alias Kool Shen darf sich parallel zum Tränengaseinsatz in die toughe Graffiti-Sprayerin Vivi (Laïka Blanc-Francard) verknallen und damit einen der emotionalen Seitenpfade dieser vielschichtigen Serie eröffnen. Dass ihre Lady V genauso wie Daniels Freundin Béatrice (Léo Chalié) fiktive Figuren sind, belegt dabei den eklatanten Frauenmangel der frühen Hip-Hop-Kultur, aber auch das Bedürfnis der Verantwortlichen, divers zu erzählen. Fürs bürgerliche Aneignen dieser Subkultur ist es – obwohl Gottschalk schon 1980 spaßeshalber gerappt hat – zum Glück noch ein bisschen zu früh.
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