- Politik
- Chatkontrolle
Strandfotos unter Generalverdacht
Europäische Bürgerrechtsorganisationen fordern, die Pläne der EU-Kommission für eine anlasslose Chatkontrolle zu stoppen
Europas Bürgerrechtsorganisationen schlagen Alarm: In einem gemeinsamen Positionspapier warnt die europäische Dachorganisation für Digitale Grundrechte (EDRi) vor den Plänen der EU-Kommission für eine anlasslose Chatkontrolle. Unter dem Motto »Stop Scanning Me!« (Hört auf, mich zu scannen!) rufen die EDRi und 13 weitere Organisationen dazu auf, den Gesetzentwurf aus Brüssel abzulehnen. Sie kritisieren, dass »der Verordnungsvorschlag zur Chatkontrolle weder sein erklärtes Ziel erreichen kann noch mit europäischem Recht vereinbar ist«.
Tatsächlich hat es der im Mai vorgestellte Entwurf in sich. So will die Kommission die Anbieter von Messengerdiensten wie Whatsapp oder Signal zwingen, aktiv gegen die Weitergabe von Missbrauchsmaterial vorzugehen. Zudem sollen die Firmen auch das sogenannte Cyber-Grooming bekämpfen, also die sexuelle Belästigung von Kindern über Messengerdienste. Demnach sollen die Anbieter bekanntes und bislang unbekanntes Foto- und Videomaterial aufspüren und melden. Sie dürfen aber nur jene Informationen heranziehen, »die dazu unbedingt erforderlich sind«. Eine noch zu schaffende EU-Zentrale soll die entsprechende Technologie kostenlos zur Verfügung stellen.
Im Klartext heißt das: Die private Kommunikation aller EU-Bürger*innen soll automatisch und anlasslos durchleuchtet werden. Noch ist unklar, wie das geschehen soll. Die Software soll per Ausschreibung gefunden werden. Klar ist jedoch, dass alle wichtigen Messengerdienste eine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nutzen. So können Dritte nicht mitlesen. Die Chatkontrolle müsste diese Verschlüsselung umgehen, wenn sie die dort verschickten Bilder scannen soll, etwa indem das Auslesen von Inhalten bereits vor der Verschlüsselung auf den Geräten der Nutzer*innen erfolgt. Client-Side-Scanning nennt sich dieses Verfahren und ist hochumstritten.
Deshalb warnt die EDRi nun eindringlich: Die Verordnung würde massiv »in die Grundrechte der gesamten europäischen Bevölkerung eingreifen und eine dystopische Überwachungsinfrastruktur etablieren«. Statt sich um den Kinderschutz zu kümmern, also Prävention und Opferschutz in den Mittelpunkt zu stellen, »setzt die Kommission auf einen technokratischen Ansatz, der Überwachung in demokratiegefährdendem Umfang ermöglicht«, heißt es in der Erklärung weiter.
Erst vor wenigen Tagen hatte der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags eine eigene Analyse zur Chatkontrolle veröffentlicht, die die Linken-Abgeordnete Anke Domscheit-Berg in Auftrag gegeben hatte. Der Dienst hält es demnach für »unwahrscheinlich, dass eine grundsätzliche Überwachung von Individualkommunikation der Überprüfung der (europäischen) Grundrechte standhalten würde. Zudem wäre eine Ausweitung der Überwachung auch auf andere Bereiche möglich und zu befürchten«.
Bundesjustizminister Marco Buschmann und Digitalminister Volker Wissmann (FDP) lehnen die Pläne aus Brüssel zwar ab. Doch Domscheit-Berg beruhigt das nicht, vor allem weil sich die Bundesregierung »vor einer klaren Aussage zum Client-Side-Scanning drückt«. Sie habe das Gefühl, so die Netzaktivistin, dass »man sich diesen Weg für eine Umsetzung der Chatkontrolle offenhält«.
Das Bündnis »Chatkontrolle stoppen!« fordert deshalb: »Die Bundesregierung muss den Überwachungsplänen der Von-der-Leyen-Kommission endlich eine eindeutige Absage erteilen und darf sich nicht länger um eine klare Positionierung winden.« Tatsächlich erinnert das Ganze an den Umgang der Ampelkoalition mit der Spitzel-Software Pegasus, die etwa auf Mikrofone und Kameras von Smartphones zugreifen kann. Offiziell wenden sich Grüne und FDP dagegen. Doch in der Praxis setzen Bundeskriminalamt und Bundesnachrichtendienst die Software längst ein.
Selbst UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk warnt vor dem Client-Side-Scanning als »Paradigmenwechsel«. Dabei sei die Verschlüsselung »von wesentlicher Bedeutung für die Wahrung der Rechte, einschließlich der Meinungsfreiheit und freien Meinungsäußerung«. Türk verweist zudem auf die hohe Zahl von Fehlalarmen, dadurch würden viele unschuldige Menschen in falschen Verdacht geraten. Tatsächlich rechnet auch die EU-Kommission mit vielen »falsch-positiven Treffern«. Schließlich muss die Software erkennen, ob es sich um ein harmloses Strandfoto handelt oder um eine kinderpornografische Aufnahme.
In einem internen Bericht, den das Portal Netzpolitik veröffentlichte, rechnet die Kommission bei aktueller Grooming-Erkennungstechnologie mit einer Fehlerquote von zehn Prozent. In diesen Fällen würden die fraglichen Bilder und Nachrichten auf den Bildschirmen von Ermittler*innen landen und dort begutachtet. Diese müssten dann entscheiden, ob es sich um strafrechtlich relevantes Material handelt. So dürfen sich die Beamten dann private Fotos anschauen, ohne dass die Betroffenen davon etwas mitkriegen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.