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Die Zukunft der Vergangenheit

Das Leben bejahen, ohne die Verzweiflung zu negieren: »Benito«, Hendrik Otrembas fulminanter dritter Roman

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 4 Min.

Kaum ein Jahr vergeht, in dem Tausendsassa Hendrik Otremba nicht auf dem einen oder anderen Wege künstlerisch in Erscheinung tritt. Erste Bekanntheit erlangte der aus Recklinghausen stammende Wahlberliner als Sänger und Textschreiber der Band Messer, die zuletzt im Jahr 2020 mit ihrem Album »No Future Days« auf sich aufmerksam machte. Ein Soloalbum ist angekündigt. Zudem ist er als Kunstdozent und bildender Künstler tätig.

Zu seiner Haupttätigkeit allerdings hat sich mittlerweile das Schreiben entwickelt. Vor Kurzem hat der diesen März wiederauferstandene März Verlag aus Berlin mit »Benito« Otrembas dritten Roman veröffentlicht: Ein Monumentalwerk von 500 Seiten, ein dichtes Gewebe aus autobiografischen sowie historischen Bezügen auf der einen und Fiktionalität und Fantasie auf der anderen Seite. Doch führt der in poststrukturalistischer Theorie geschulte Otremba gegen Ende des Buches zugleich vor Augen, dass das eine nie ganz vom anderen zu trennen ist: »Was ich nicht erinnern kann, das werde ich erfinden müssen. Was ich nicht erfinden kann, das werde ich erinnern müssen«, heißt es dort in bester dialektischer Manier.

Der Roman, der im Jahr 2026 spielt, ist unterteilt in zwei Erzählstränge: Der erste Strang handelt vom elfjährigen Cherubim, dem nach Otrembas Angaben stark autobiografisch geprägten Protagonisten des Buches. Dieser ist mit sechs weiteren Jungen auf eine Reise mit seiner Pfadfindergruppe aufgebrochen, als die Gruppe mit einem schweren Unglück konfrontiert wird, das sie vor existenziell bedrohliche Herausforderungen stellt. Lange Jahre war die Erinnerung daran vergraben, bis sie durch ein Ereignis schlagartig wieder ins Bewusstsein gerufen wird: Bei einer Zusammenkunft im Hotel Paradies in Bonn wird der nun namenlose Protagonist Zeuge eines Terroraktes, bei dem wie durch ein Wunder niemand zu Tode kommt – abgesehen von dem vermeintlichen Terroristen. Noch im Getümmel selbst erkennt der Protagonist im Täter seinen ehemaligen Freund Benito, mit dem ihn 30 Jahre zuvor bei den Pfadfindern eine enge Beziehung verband.

Diese Tat wird sodann Ausgangspunkt einer wilden Odyssee, die einzig und allein dem Ziel verpflichtet ist, Licht ins Dunkel zu bringen. Wie ein Besessener versucht der Icherzähler, das Sammelsurium an Eindrücken, Erinnerungen, Berichterstattungen und Erzählungen über die Tat im Besonderen und Benito im Allgemeinen für sich zu ordnen. Was bezweckte Benito mit seiner Tat? War es ein Versehen oder vielmehr Kalkül, dass trotz der vielen Schüsse niemand verletzt, geschweige denn getötet wurde? Lag der Tat möglicherweise eine Message zugrunde, die es zu entschlüsseln gilt? Die meisten Medien, gleich welcher Couleur, glauben dabei schon einen Tag nach der Tat allen Schrecken und Eigentümlichkeiten zum Trotz zu wissen, auf welchen Motiven die Tat beruht: Linke Zeitungen erkennen darin eine verzweifelte Kapitalismuskritik, reaktionäre Medien eine gegen den überbordenden Hedonismus gerichtete Verzweiflungstat, und Kulturmedien meinen gar, Zeug*innen eines performativen Akts irgendwo zwischen Surrealismus und Wiener Aktionismus geworden zu sein.

Angereichert wird diese Geschichte mit allerlei Querverweisen und Referenzen: Mal wird die praktische Tat Benitos in Kontrast gesetzt zur Theoriestrenge von Adorno, mal wird ein Bezug hergestellt zu einer Schlüsselszene aus Andrej Tarkowskis Film »Nostalghia« aus dem Jahr 1983, als der Mathematiker Domenico sich selbst in Flammen setzt, nachdem er in einer Brandrede auf dem Kapitolshügel in Rom die »Irrwege der Zivilisation« gegeißelt hat. Und tatsächlich erweist sich diese Filmszene als ein Hinweis darauf, was Benito zu seiner Tat getrieben hat. Denn er war krank, wie es an einer Stelle heißt: »Er krankte an der Zivilisation.«

Ersichtlich wird nicht nur an Stellen wie dieser, dass Otremba einen Hang zum Kulturpessismus pflegt, für den die Gegenwart zweifelsohne reichlich Grundlage bietet. Doch stellt er keine Beschwörung des Schlechten dar, im Gegenteil. An einer Schlüsselstelle des Romans heißt es über das Verhältnis zu Benito: »Ich aber wollte leben, auch wenn ich seine Verzweiflung kannte.« Darum geht es am Ende dieses Buches: das Leben zu bejahen, ohne die Verzweiflung zu negieren. In einem Interview sagte Otremba kürzlich, dass er bestimmte, katastrophische Szenarien womöglich nicht zuletzt deshalb gerne entwerfe, »damit sie mir nicht selbst passieren«. Und also den Versuch darstellen, das schier Unberechenbare – die Zukunft selbst – ein Stück weit berechenbar zu machen.

Hendrik Otremba: Benito, März, 500 S., geb., 28 €.

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