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Was in den Büchern ist
Ein Ritt durchs Barcelona der vergangenen 30 Jahre: In Miqui Oteros »Simón« lernt man, dass das echte Leben kein Roman sein kann
Das Jahr 1992 ist das Jahr des Aufbruchs in Barcelona, das Jahr der Olympischen Spiele, das Jahr, in dem sich die Stadt radikal verändert – und auch die Welt des achtjährigen Simón verändert sich. Sein engster Vertrauter, der zehn Jahre ältere Cousin Rico, der für ihn wie ein Bruder ist, verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Diese beiden »Cousin-Brüder«, wie sie sich nennen, sind die Protagonisten im Roman »Simón« des barcelonischen Autors Miqui Otero (Jahrgang 1980). Es ist seine erste Übersetzung ins Deutsche.
Rico und Simón wachsen in Sant Antoni auf, damals noch ein Arbeiterviertel, in dem ihre Eltern unweit der Markthalle gemeinsam eine kleine Bar betreiben. Rico bringt seinem Cousin die Welt der Literatur näher, bläut ihm immer wieder ein: »Alles ist in den Büchern«. Und Simón verliert sich halb in diesen Fantasiewelten, von denen sich zu emanzipieren er einen Großteil seiner Jugend benötigen wird. Unterdessen erwacht Simóns und Ricos Heimatstadt, von der es immer hieß, sie lebe mit dem Rücken zum Meer, anlässlich der Olympischen Spiele aus ihrem Dornröschenschlaf. Die erste Welle der Gentrifizierung beginnt. Als Kind bemerkt Simón diese Veränderungen aber nur am Rande; seine Leben spielt sich fast ausschließlich in der Kneipe seiner Eltern ab.
Es ist die Nacht der Dächer, die für ihn alles schlagartig ändert. Der Sommer hält Einzug in Barcelona, die ganze Stadt befindet sich aufgeheizt durch die Olympischen Spiele in einer trunkenen Euphorie, und Rico nimmt den kleinen Cousin mit auf die Dächer der Stadt, wo er, ohne dass Simón das damals begreift, Drogen an viele Menschen verkauft – und dann spurlos und ohne ein Wort verschwindet. Viele Jahre lang wird Simón, der nicht versteht, was passiert ist, an Ricos Losung festhalten, alles sei in den Büchern, und liest einen Roman nach dem anderen, um eine Antwort auf die Abwesenheit seines Cousins zu entdecken. Erst viel später stellt er fest, wie wörtlich Rico das gemeint hat: Als der Schneider des Viertels stirbt, findet Simón in dessen unzähligen Büchern Geldscheine, die Rico darin versteckt hatte.
Dieses Geld ermöglicht es Simón als jungem Erwachsenen, im Baskenland eine Ausbildung zum Koch zu beginnen; später führt ihn sein Weg aber zurück nach Barcelona. Die Suche nach seinem Cousin gibt er auch zehn Jahre später noch nicht auf – bis Rico eines Tages plötzlich wieder auftaucht.
Oteros »Simón« ist so einiges: ein Coming-of-Age-Roman mit einer Prise Kriminalhandlung sowie teilweise einem breit gefächerteren Blick wie ein Gesellschaftsroman. Simóns Leben führt uns durch knapp dreißig Jahre Barcelona, von den Olympischen Spielen über die Wirtschaftskrise 2008 und ihre Auswirkungen bis hin zum schicksalhaften Jahr 2017, in dem es am 17. August nicht nur einen islamistischen Anschlag auf den Ramblas gab, sondern auch große Konflikte und Proteste in der Stadt wegen des gescheiterten Unabhängigkeitsreferendums am 1. Oktober.
Erzählt ist das allerdings nicht als rasanter Thriller, sondern ruhig, mit Blick fürs Detail. Manchmal zu ruhig: Gerade der Teil, der von Simóns Einstieg in die Welt der Hochgastronomie und dem damit verbundenen Versuch, in die Oberschicht aufzusteigen, erzählt, ist recht langatmig. Andere Entscheidungen des Autors sind geschickter: Gerade weil es für Ricos langjähriges Verschwinden keinen spektakulären Grund gibt, wirkt es um so schlimmer. Doch der Geschichte fehlt es an Drive und Dichte, die aus diesem Schelmenroman (eine lange Tradition in Spanien) um eine einzelne Figur einen echten Gesellschaftsroman gemacht hätten, der über die Gentrifizierung Barcelonas hinaus auch mehr über ihre Folgen auf die Bewohner*innen berichtet.
Die wirklich gelungene Übersetzung stammt Matthias Strobel, der unter anderem auch die Romane von Guillermo Arriaga ins Deutsche übertrug. Allein im Detail hätte man ihm ein sorgfältigeres Lektorat gewünscht, etwa wenn bei den Eigennamen spanische und katalanische Wörter durcheinandergeworfen werden (aus dem Camp Nou wird Campo Nou, die Avinguda del Paral·lel wird zur Avenida, dasselbe Viertel heißt mal Ensanche, mal Eixample) oder Nirvana-Lyrics arg frei interpretiert sind. Davon abgesehen liest sich »Simón« auf Deutsch glatt und reibungslos.
Es ist ein Roman über einen, der lernen muss, dass es nicht so eine gute Idee ist, »so zu leben, als wäre dein Leben ein Film oder ein Song oder ein Roman«, und der trotzdem immer wieder Trost in den Büchern findet. Darin ähnelt er dem Protagonisten in Carlos Ruiz Zafóns großem Barcelona-Roman »Der Schatten des Windes« (ansonsten sind diese beiden Bücher aber nicht vergleichbar). Ortero erzählt vom Verlust kindlicher Unschuld und dem Glauben an Sicherheit(en); von einem Helden, der versucht, mit den Enttäuschungen des Lebens klarzukommen. Und von einer Stadt im Wandel und der Frage, wie sehr dieser äußere auch zum inneren Wandel der Menschen beiträgt. Miqui Otero gehört zwar nicht zu den jüngsten und aufregendsten Stimmen Spaniens, die man anlässlich des Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse zumindest teilweise in deutscher Übersetzung entdecken kann – aber doch zu den solidesten Autoren der spanischen Gegenwartsliteratur.
Miqui Otero: Simón. A. d. Span. v. Matthias Strobel, Klett-Cotta, 448 S., geb., 25 €.
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