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Her mit dem Hybriden!

Schlimmer als die Identitätspolitik ist meist ihre Kritik. Und dann ab ins Schaumbad. Zwei wichtige Bücher von Richard Schuberth und Jens Balzer

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Mit der Diskussion über das, was im tagtäglichen Social-Media- und Feuilleton-Gehacke unter dem Begriff Identitätspolitik firmiert, ist’s schwierig. Zum einen kriegt man das Phänomen kaum zu fassen, weil es doch sehr schillernd ist und jede substanzielle Bestimmung bereits ideologisch aufgeladen zu sein scheint. Zum anderen ist der Streit aufgeheizter als sonst bei anderen Themen. Das gilt insbesondere, wenn er, wie zuletzt bei der allerdings nur noch abstrusen Debatte um ein angebliches Verbot der »Winnetou«-Verfilmungen, um kulturelle Aneignung kreist. Der Begriff trifft einen zentralen Punkt: Nach ein paar Jahrhunderten Kolonialgeschichte, in denen die Menschen des globalen Südens ausgebeutet und in Massen abgeschlachtet wurden, werde jetzt im Nachgang noch ihre Kultur zur Ware gemacht.

Von da aus aber wird es kompliziert, schon bei einer Formulierung wie »ihre Kultur«. Wenn etwa die Frage, ob die Popsängerin Cher sich in einem Song auf die Geschichte der Cherokee beziehen darf, obwohl sie nicht von Cherokee abstamme (und später dann behauptet hat, sie sei mütterlicherseits zu einem Sechzehntel Cherokee), wird es ungut identitär. Was also soll man machen, wenn man weder Lust auf identitäre, strukturell rechte Verhärtungen noch auf reaktionäre Kritik an der Identitätspolitik hat? Und wie sähe eine Kritik aus, die das Identitäre der Identitätspolitik in den Blick kriegt, ohne ihre richtigen und dringenden politischen Forderungen zu verabschieden?

Zwei kürzlich erschienene Bücher helfen weiter. Der Wiener Autor Richard Schuberth hat ein »identitätspolitisches Lesebuch« vorgelegt, das er »Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung« genannt hat. Eine Sammlung von Essays, Interviews, Radiobeiträgen und Cartoons und Collagen, die eine Kritik der Identitätspolitik zu formulieren versuchen, die weiß, dass die gängige Polemik oft reaktionärer und dümmer ist, als die Identitätspolitik selbst es je sein könnte.

Der frühere Musikredakteur der »Berliner Zeitung«, Jens Balzer, wiederum sucht in seinem schmalen Bändchen »Ethik der Appropriation« nach einer vertretbaren Praxis angesichts einer Kultur, deren Geschichte wesentlich von Gewalt und Ausbeutung bestimmt ist und deren befreiende Potenziale zugleich in der Vermischung entstehen, also in der Aneignung des anderen. Wenn kulturelle Aneignung also unhintergehbar ist, wie kann man sie praktizieren, ohne dass die Aneignung schlicht Ausbeutung bedeutet? Das ist laut Balzer eine Frage der Ethik. Während Schuberth es um die Abschaffung der Umstände geht, in denen Aneignung mit Gewalt und Ausbeutung verbunden ist.

Der Ausgangspunkt von Schuberths Kritik ist nicht neu: Die Identitätspolitik krankt demnach etwa daran, dass sie Ungleichheit und Diskriminierung zu Fragen der Moral und zum Beispiel Rassismus zu einer essenziellen Eigenschaft des weißen Mannes erklärt. Geschichte wird dann nicht mehr analysiert, sondern nach Gut und Böse sortiert. Alles werde »nach bösen Haltungen abgescannt«, schreibt Schuberth. Widersprüche und Ambivalenzen würden im identitätspolitischen Denken nicht mehr begriffen, sondern sollen sozusagen ungeschehen gemacht werden – durch die richtige Haltung heute.

Die Kritiker*innen der Identitätspolitik kommen bei Schuberth allerdings noch schlechter weg. Die nämlich würden sich ihren Gegner so zurechtstutzen, wie sie ihn brauchen, wenn – siehe das herbeihalluzinierte »Winnetou«-Verbot – eine allmächtige Zensorenfront mit großer medialer Macht fantasiert wird, gegen die man sich als liberaler last man standing zur Wehr setzen müsste. Die berechtigten Anliegen der Identitätspolitik – Antirassismus, Feminismus, Kampf gegen Ungleichheit – gilt es laut Schuberth zu bewahren, aber eben ohne dass eine kollektive Identität die Instanz sein muss, auf die man sich beruft: »Freiheit heißt, dass einer viele werden kann, nicht viele einer.«

All das entwickelt Richard Schuberth nicht in abstrakten Thesentexten, sondern mit bösem Witz an den Gegenständen, die er sich vornimmt. Zum Beispiel in einer Analyse der Komödie »Der Partyschreck« von 1968, die für Peter Sellers’ Darstellung eines unbeholfenen Inders in Hollywood scharf kritisiert worden ist. »Kulturelle Aneignung« heißt in diesem Fall: Ein britischer Schauspieler macht sich über Kolonisierte lustig. Schuberth schaut genau hin: »Alle Charaktere sind Karikaturen ihrer gesellschaftlichen Rollen; der Inder bloß die menschlichste und sympathischste, noch dazu mit dem dramaturgischen Geheimauftrag, die Karikaturhaftigkeit der anderen bloßzustellen.« Am Ende des Films findet man ein Bild, in dem Schuberth ein utopisches Moment sieht, weil in ihm die Ungleichheit nicht abgemildert, sondern grundlegend aufgehoben worden ist: Alle Partygäste baden kulturen- und ständeübergreifend im selben Schaumbad. »Alles versinkt in diesem seinerzeit beliebten Symbol sinnlich-feuchter Entgrenzung (…). Und alle baden von nun an in derselben Suppe. So muss Identitätspolitik!«

Solange dieses Bild utopisch bleiben muss, wird man irgendwie weiterwursteln im Widerspruch zwischen Forderungen nach Gleichheit, Unversehrtheit und Mitsprache und potenziellen identitätspolitischen Verhärtungen und Essenzialisierungen. Hier hilft Jens Balzer. Am Beispiel der kulturellen Aneignung schlägt Jens Balzer, dessen »Ethik der Appropriation« sich gut als Ergänzung zu Schuberths identitätspolitischem Lesebuch eignet, eine Unterscheidung zwischen »guten und schlechten Appropriationen« vor. Auf dem Weg zu dieser Differenzierung erinnert er an den unhintergehbar ambivalenten Charakter von Aneignung: »Appropriation ist eine schöpferische, kulturstiftende Kraft. Aber zugleich ist sie in Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt.«

Um nicht auf dem »Holzweg einer Identitätslogik« zu landen, führt Balzer die Hybridisierung als potenziell befreiend oder zumindest öffnend wirkende ästhetische Qualität ein. Identitäten sind eh nicht oder nur mit Gewalt klar voneinander abgrenzbar. Die Schlussfolgerung: »Ich schlage vor, als richtige Appropriationen solche zu begreifen, die nicht auf die Zementierung von Reinheits-, Natur- und Authentizitätsvorstellungen zielen, sondern vielmehr auf die Entgrenzung, das Hybride.« Die schlechte Aneignung wäre demnach unter anderem die, die »kulturelles Eigentum« mit einem letztlich biologischen Begriff von Herkunft und Kultur verbindet. Und die, die sich in der Fortschreibung kolonialer Praxis nimmt, was sie braucht, wie etwa Eric Clapton den Blues, und dann Profit schlägt daraus.

Balzers Ethik läuft am Schluss dann doch wieder auf eine klare Unterscheidung von richtiger und falscher Praxis heraus, die etwas quer zur vorangegangenen Feier des Hybriden und Mehrschichtigen ein paar Seiten zuvor steht. Schuberth denkt und schreibt dialektischer und stellt immer wieder die eigenen Widersprüche und Selbstkorrekturen heraus. Sehr klärend aber sind beide Bücher.

Richard Schuberth: Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung: Das identitätspolitische Lesebuch. Drava, 300 S., geb., 21 €.
Jens Balzer: Ethik der Appropriation. Matthes & Seitz Berlin, 87 S., br., 10 €.

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