Souverän in die Krise

Der aktuelle Abschwung belegt die ökonomische Dominanz der USA

Zwei Wochen vor den Kongresswahlen in den USA ist der Rückhalt von Präsident Joe Biden in der US-Bevölkerung weiter gesunken. Laut einer Erhebung der Nachrichtenagentur Reuters von dieser Woche stehen nur noch 39 Prozent der Bürger*innen hinter seiner Politik. Ihr mit Abstand größtes Problem: die hohe Inflationsrate, die die US-Wirtschaft bremst und die Menschen ärmer macht. Die Situation in den USA ist zwar ähnlich wie in Europa und anderen Teilen der Welt. Allerdings sind die Vereinigten Staaten weniger passiv von der Krise betroffen. Vielmehr gestalten sie die Krise aktiv, treiben sie voran und demonstrieren damit ihre globale Stärke.

Zuletzt lag die Inflationsrate in den USA bei 8,2 Prozent. Im Gegensatz zu Europa sind daran allerdings weniger die Energiepreise schuld – die USA produzieren mehr Gas und Öl, als sie selbst brauchen, im Land liegen die Preise deutlich niedriger als in Europa. Ursache der hohen Inflationsrate ist vielmehr eine außerordentliche Stärke der US-Wirtschaft, die die Regierung in Washington in den vergangenen Jahren massiv angefeuert hat.

Massive Staatsförderung in der Krise

Auf die Coronakrise hatten die USA deutlich aggressiver als alle anderen Industriestaaten reagiert: Das Haushaltsdefizit verdreifachte sich 2020 und 2021 auf durchschnittlich 10,5 Prozent der Wirtschaftsleistung. Im ersten Pandemiejahr wurde ein 900-Milliarden-Dollar-Programm aufgelegt. 2021 folgten der American Rescue Plan über 1,9 Billionen Dollar und der Investment and Jobs Act über 1,3 Billionen. Die staatliche Unterstützung für Haushalte, Unternehmen und Bundesstaaten »ähnelte weniger normalen Anti-Rezessions-Maßnahmen, sondern hatte eher Ausmaße wie im Zweiten Weltkrieg«, schrieb der Ökonom Lawrence Summers in der »Washington Post«.

Dies trieb die zahlungsfähige Nachfrage in die Höhe, was zu einer »erstaunlichen Erholung« der US-Wirtschaft führte, so die Zentralbank Fed. Laut Berechnungen der Allianz waren die USA 2021 das einzige Industrieland der Welt, dem es gelang, seinen Anteil am globalen Vermögen zu erhöhen – auf 47 Prozent. Gleichzeitig jedoch gab dieser Boom den Unternehmen die Gelegenheit, ihre Preise zu erhöhen. Laut einer Fed-Schätzung ließen die Staatshilfen allein bis Ende 2021 die Inflationsrate um zusätzliche drei Prozentpunkte steigen. Das, so die Zentralbank, sei zwar problematisch, aber unausweichlich gewesen. Denn ohne die Staatshilfen »wäre die Wirtschaftsleistung langsamer gestiegen«. Und das war nicht akzeptabel.

Auch im laufenden Jahr erhöhen Washingtons Ausgabenprogramme weiter die Nachfrage, da viele Milliarden noch gar nicht abgerufen worden sind. Im Ergebnis ist die US-Wirtschaft nun einerseits stark – die Löhne stiegen zuletzt mit Jahresraten von sechs Prozent, die Arbeitslosigkeit ist extrem niedrig und der Anteil der Unternehmensgewinne am Bruttoinlandsprodukt ist so hoch wie seit den 1940er Jahren nicht mehr. Die privaten Haushalte verfügen im Vergleich zur Vor-Corona-Phase noch immer über zusätzliche Ersparnisse von zwei Billionen Dollar. Die Unternehmen haben sogar 2,8 Billionen liquide Mittel, ein Viertel mehr als vor der Krise.

Zudem wird das Wachstum nicht wie in Europa behindert durch die explodierenden Energiepreise. War in früheren Zeiten Erdgas in Europa nur leicht teurer als jenseits des Atlantiks, so ist es dieser Tage fünf Mal teurer. Während Europas Regierungen verzweifelt Gasreserven zu hohen Preisen weltweit aufkaufen, verfügen die USA über reichlich Energierohstoffe, die sie exportieren können. »Tatsächlich hat Amerika in einem gewissen Sinne von der russischen Invasion der Ukraine profitiert«, schreibt der britische »Economist«. Die Ausfuhr von Öl und Ölprodukten habe einen Rekordwert erreicht.

Exporteur von Energie

Darüber sind die USA auch zum größten Gaslieferanten Europas aufgestiegen und werden diese Position ausbauen. Laut Prognosen des Energiewirtschaftlichem Institut an der Universität Köln (EWI) dürften sich die US-Lieferungen in den nächsten Jahren – je nach Entwicklung der Lieferungen Russlands – verdreifachen bis verachtfachen. »Die geopolitische Verschiebung des Energieangebots im Zuge des russischen Krieges ist breit und auf Dauer angelegt«, erklärt der Internationale Währungsfonds (IWF).

Zwar stehen die USA im weltweiten Vergleich damit gut da: Diese Woche wurde bekannt, dass die Wirtschaftsleistung im dritten Quartal 2022 noch stabil gewachsen ist. Gleichzeitig aber ist auch in den Vereinigten Staaten die Inflation sehr hoch. Die US-Zentralbank hat daher reagiert: Sie erhöhte die Leitzinsen drastisch und wird nächste Woche einen weiteren Zinsschritt tun. Damit verteuert sie Kredite und lässt das Wirtschaftswachstum sinken – das ist der für Zentralbanken übliche Weg, als überschüssig bewertete Nachfrage zu senken, um die Inflation zu drücken.

Das führt kurzfristig zwar zu Wachstumseinbußen. Diese dürften aber zum einen milde ausfallen und zum anderen die Basis für den nächsten Aufschwung legen: In einer Umfrage der Finanzagentur Bloomberg unter Großinvestoren waren knapp 70 Prozent davon überzeugt, die USA würden die aktuelle Krise am besten überstehen – auch weil Washington weitere Hilfsprogramme bereits beschlossen hat. Dabei werde es trotz der steigenden Zinsen »keine Probleme haben, den Staatshaushalt zu finanzieren«, so Stefan Grothaus von der DZ Bank. »Dies ist auch auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.« Denn ihr Status als Weltmacht und Weltwirtschaftsmacht garantiert den USA schier grenzenlose Kreditwürdigkeit, die sie zur Förderung ihrer Wirtschaft nutzen.

An den Finanzmärkten sieht man daher den Midterm-Wahlen gelassen entgegegen, auch weil in ökonomischer Hinsicht die Unterschiede zwischen Republikanern und Demokraten als eher gering bewertet werden. Aus konjunktureller Sicht, so die DZ Bank, mache es kaum einen Unterschied, ob die Demokraten in beiden Kongresskammern eine knappe Mehrheit halten können, oder ob es zu einem gespaltenen Kongress komme. Wirtschaftlich entscheidend sei die Zinspolitik sowie das allgemeine wirtschaftliche und politische Umfeld, erklärt Grothaus. »Wie die Mehrheitsverhältnisse im Kongress ausfallen, hat in der Vergangenheit kaum eine Rolle an den Renten- und Devisenmärkten gespielt.«

Die Welt im Dollar-Zyklus

Die USA führen damit souverän ihren Abschwung herbei. Der Rest der Welt hingegen schlittert in eine neue Phase des globalen »Dollar-Zyklus«: Zinserhöhungen in den USA ziehen Kapital in die Vereinigten Staaten, deren Dollar ohnehin als sicherer Hafen geschätzt wird und der stark aufgewertet hat. Um Kapitalabfluss und Währungsabwertungen – wie jüngst in Großbritannien – zu verhindern oder abzumildern, müssen alle anderen Währungsräume mit deutlichen Zinserhöhungen nachziehen. Das schädigt zwar ihre Ökonomien und Konjunkturen. Aber die Konkurrenz zum starken Dollar lässt ihnen keine Wahl, sie müssen folgen, ob sie es wollen oder nicht. »Er ist unsere Währung – aber euer Problem«, sagte bereits 1971 der damalige US-Finanzminister John Conally.

Für viele ärmere Länder bedeuten die steigenden Zinsen die Gefahr einer Pleite. Laut IWF befindet sich ein Viertel von ihnen in akuter Gefahr oder musste sich vom IWF bereits stützen lassen. »Arme Länder könnten vor Wut explodieren, weil sie sich als Opfer der Aktionen reicher Länder sehen«, schreibt Reuters-Korrespondent Hugo Dixon. »Sie haben die Welt nicht mit billigem Geld geflutet, sie bekamen in der Pandemie nicht so viele Impfstoffe, sie haben weder die Lebensmittel- noch die Energiekrise verursacht und sie sind nicht verantwortlich für die Klimakrise, die ihre Länder besonders hart trifft.«

Die Gefahr von Zahlungsausfällen droht in Europa zwar noch nicht. Allerdings musste die britische Regierung vergangene Woche unter dem Druck der Finanzmärkte bereits Konjunkturpakete streichen. Und in der Eurozone sieht sich die Europäische Zentralbank (EZB) gezwungen, der US-Zentralbank zu folgen: Diesen Donnerstag hat sie ihre Leitzinsen abermals kräftig erhöht und will diesen Weg weiter gehen, obwohl die Rezession unmittelbar droht. Denn zum einen fressen die hohen Energiepreise die Kaufkraft der Konsumenten. »Noch kritischer ist die Lage in der Industrie«, analysiert die Commerzbank. »Sie leidet nicht nur unter einer schwächeren Nachfrage seitens der privaten Haushalte. Die massiv gestiegenen Strom- und Gaspreise machen zudem die Produktion mancher Güter unrentabel, sodass diese von den Unternehmen trotz ausreichender Aufträge heruntergefahren wird.«

Am Freitag gab das Statistische Bundesamt bekannt, dass die deutsche Wirtschaftsleistung zwischen Juli und September überraschenderweise noch um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorquartal gewachsen ist – trotz der hohen Energiepreise, die die Inflationsrate im Oktober auf voraussichtlich 10,4 Prozent gehievt hat. In Spanien und Frankreich gab es ebenfalls ein kleines Wachstum von 0,2 Prozent. Für den Winter sieht es allerdings eher düster aus. Laut Prognose des IWF wird mehr als die Hälfte der Länder der Eurozone eine technische Rezession erleben, also zwei aufeinanderfolgende Quartale mit schrumpfender Produktion. »Der Winter 2022 wird hart«, so der Fonds, »und der Winter 2023 könnte noch härter werden.«

Während also die US-Wirtschaft durch Zinserhöhungen gebremst wird, weil sie stark ist, steigen in der Eurozone die Zinsen, obwohl die Wirtschaft schwach ist. Anders als in den USA besteht zudem die Möglichkeit, dass in Europa die Zinserhöhungen kaum gegen die Inflation helfen. Denn sie lösen nicht das europäische Grundproblem hoher Energiekosten – ein Problem, das die USA schlicht nicht haben und das sie für Europa auch nicht lösen werden. Laut EWI dürften die Großhandelspreise für Gas in Europa auch 2026 noch über dem Niveau von 2021 liegen. Klar sei auch, dass in jedem der Szenarien der europäische Gaspreis deutlich höher bleiben werde als der amerikanische.

Das hat bei Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schon für Unmut gesorgt. »Die nordamerikanische Wirtschaft fällt Entscheidungen zu Gunsten ihrer Attraktivität, was ich respektiere«, sagte er vergangene Woche. Allerdings schüfen die USA so einen »doppelten Standard« mit niedrigen inländischen Preisen und Rekordpreisen für die Lieferungen nach Europa. Macrons Kritik an diesen »unverdienten Kriegsgewinnen« konterte die US-Seite allerdings damit, in ihrem Land sei es nicht der Staat, sondern die Privatwirtschaft, die Energie verkaufe – und derzeit eben zu hohen Weltmarktpreisen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -