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Udo und die »Letzte Generation«
Was ein Lied aus den frühen 80ern mit den Anliegen der Klimaaktivist*innen zu tun hat, erklärt Christoph Ruf
In Scharm El-Scheikh tagt gerade die 27. Weltklimakonferenz. Wussten Sie gar nicht? Ich bis vor ein paar Minuten auch nicht. Es gab ja auch wirklich Wichtigeres in den letzten Tagen. Heidi Klum hat sich an Halloween als Wurm verkleidet, Tom Buhrow kurz vor der Rente sein Rückgrat entdeckt. Solche Sachen. Naja, in Ägypten wird jedenfalls über Dinge debattiert, die eigentlich gar nicht so unwichtig sind. Bleibt es bei den bisher angekündigten CO2-Einsparungen, erwärmt sich die Erde bis zum Jahr 2100 um 2,5 Grad, das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass halbe Kontinente absaufen und hunderte Millionen Menschen auf der Flucht sein werden. Überraschen kann das niemanden, der beobachtet, wie bereitwillig die nationalen Regierungen ihre angeblichen Klimaschutzziele vergessen, wenn irgendeine vergleichsweise banale Aktualität in eine Agenda hineinfunkt, deren Dringlichkeit auch keine der im Bundestag vertretenen Fraktionen begriffen zu haben scheint.
Für diejenigen, die heute 20 Jahre alt sind, ist das Jahr 2100 keine ferne Epoche mehr, sondern eine Zeit, in der ihre Kinder und Enkelkinder mit einer hohen Wahrscheinlichkeit noch leben würden, wenn die Menschheit nicht die dümmste Spezies wäre, die diesen Planeten je bevölkert hat. Dass sich einige Menschen dieser Altersklasse heute »Letzte Generation (LG)« nennen, ist daher weniger melodramatisch, als viele Ältere zu denken scheinen. Erstaunlich ist es eher, dass so viele Gleichaltrige ähnlich sorglos auf der Titanic herumkaspern wie ihre Eltern. Und auch denen dürften eigentlich die Gedanken nicht ganz fremd sein, die einige junge Menschen zuletzt dazu brachten, sich auf die Straße zu kleben. Tschernobyl, Wettrüsten, Atomtests – auch die heute 50-Jährigen dürften das Gefühl von Panik kennen, das entsteht, wenn man den Eindruck hat, in einem Flugzeug ohne Kapitän und Crew zu sitzen. 1983 sang Udo Lindenberg (»Kleiner Junge«) von einem Heranwachsenden, dessen Mutter ihm beim Abendbrot erzählte, »dass viele Kinder hungrig sind und sterben«. Der Kleine »war so geschockt und dachte ›So ein Wahnsinn‹ und rannte zu seinem Sparschwein hin. Da war sein ganzer Reichtum drin: ›Mutter, wir müssen was tun.‹« Sie ahnen, wie die Geschichte endet: Während andere altern, zynisch und träge werden, bleibt beim kleinen Jungen das Entsetzen über die Welt, in der er lebt, lebendig. »Und wenn er dann schrie und weinte und ausflippte im Büro, einfach so, lachten sie ihn aus: Psychiatrie, Irrenhaus.«
Daran musste ich zuletzt einige Male denken, als ich die hysterische Debatte über die Aktionen der »Letzten Generation« verfolgte. Fragen sich die ganzen Pharisäer von Söder über Kretschmann bis Faeser in ihren (wie so oft) fast gleichlautend empörten Kommentaren denn nicht zumindest manchmal, ob es nicht vielleicht ihr Totalversagen, ihre wohltemperierte, tief bürgerliche Bräsigkeit und Verlogenheit sein könnte, die sensiblere Menschen im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße treibt? Glauben sie wirklich, dass sie die besseren Menschen sind, weil sie die Straßenverkehrsordnung beachten?
Nicht, dass ich bei allem, was LG so treibt, vor Freude im Quadrat springen würde. Erbsensuppe auf Kunstwerke zu schmieren, wäre das Letzte, was ich machen würde, wenn ich auch stattdessen … ach, lassen wir das. Zumal solche Aktionen auch politisch kontraproduktiv sind. Was die Aktivistinnen antreibt, ist mir trotzdem sympathisch. Denn LG ist natürlich auch ein Produkt der Zeit, in die sie das Pech hatte, hineingeboren zu werden. Sie leben in einer Gesellschaft, die nur dann auf die Apokalypse reagiert, wenn ihre wohlig sedierten Reize ganz kurz mal durch einen medial verstärkten Aufreger aus dem Koma geholt werden. In Karlsruhe musste am Wochenende eine Veranstaltung mit einem LG-Vertreter wegen einer sehr deutlichen Morddrohung abgesagt werden. Die ging übrigens ein, nachdem publik geworden war, dass das Berliner Unfallopfer auch ohne die Blockade der LG gestorben wäre. Es hat sich nicht viel geändert seit der Zeit des »Kleinen Jungen«. In der Psychiatrie sitzen auch heute oft die Falschen.
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