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  • Dokumentation »Invisible Demons«

Seit wann leben wir falsch?

Der indische Regisseur Rahul Jain wollte mit der Doku »Invisible Demons« die Zerstörung der Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens zeigen

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Ästhetik des Schreckens: Hier bekommt man einen Vorgeschmack auf die Apokalypse, die unvermeidlich scheint, wenn bisherige Entwicklungsländer auf ein antiquiertes kapitalistisches Modell setzen.
Eine Ästhetik des Schreckens: Hier bekommt man einen Vorgeschmack auf die Apokalypse, die unvermeidlich scheint, wenn bisherige Entwicklungsländer auf ein antiquiertes kapitalistisches Modell setzen.

Man erinnert sich, wie dicht der November-Nebel in den 80er Jahren über Berlin-Friedrichshain oder Prenzlauer Berg hing, wo man noch mehrheitlich mit Kohle heizte. Oft sah man die Hand vor Augen nicht, während man den Kinderwagen frühmorgens an stinkenden Zweitaktern vorbeischob. Vom ätzenden Geruch der Chemie-Luft in Leipzig und Bitterfeld nicht zu reden. Darüber schrieb Monika Maron ihr Buch »Flugasche«, dessen Erscheinen in der DDR lange Zeit verhindert wurde.

Wie ähnlich die Bilder aus Delhi von heute! In Rahul Jains »Invisible Demons« scheinen sie bis ins Groteske gesteigert. Wie eine Welt nach der Welt. Wattiger weißer Chemie-Schaum bedeckt Flüsse, Bäche und Tümpel. Hier lebt nichts mehr. Trinkwasser wird in Tankwagen in die Stadt gebracht. Und doch stehen Menschen im giftigen Uferschlamm der Flüsse und verrichten ihre rituellen Waschungen. Der höchste Berg Delhis ist mittlerweile eine von vier wuchernden Mülldeponien. Die Plaste wächst bis in die Wolken. Und noch in diesen Abfallmassen laufen elende Gestalten umher, suchen nach Verwertbaren.

Im Sommer werden es hier fast 50 Grad Celsius, Tendenz steigend, bei extrem hoher Luftfeuchtigkeit. Hier kann man nicht leben, oder nur dann, wenn man reich ist und sich ein künstliches Mikroklima schafft. Regisseur Rahul Jain, der aus wohlhabenden Verhältnissen stammt und in den USA studierte, sagt, er sei mit Klimaanlagen und Luftreinigern aufgewachsen. Stromfresser auf Kosten der Mehrheit der über 20 Millionen Einwohner Delhis. Immer mehr von ihnen existieren irgendwie unter freiem Himmel – den es hier gar nicht mehr gibt, der Himmel ist dauerhaft von Industrienebel verhüllt, so dicht, dass man die Stadt vom Flugzeug aus nicht mehr sieht.

Ungebremste Naturzerstörung durch rücksichtslose Industrialisierung im Stile des 19. Jahrhunderts. Profit ist alles, der Mensch ist nichts? So sieht es hier aus: ein Rückblick auf die menschliche Gesellschaft, auf eine Stadt als Moloch. Dabei scheint doch das Wirtschaftswachstum Indiens so eindrucksvoll?

Der Regisseur sagt, er habe keinen politischen Film mit Fakten und Zahlen machen wollen, sondern einen Kunstfilm über die Zerstörung der Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens. Gewiss hatte er Sebastião Salgados bildgewaltige Epen vor Augen. Aber bevor dieser etwa mit Wim Wenders »Das Salz der Erde« drehte, schuf er Bildbände wie »Arbeiter. Zur Archäologie des Industriezeitalters«.

Auch »Invisible Demons« forciert die Wirkung der Bilder. Eine Ästhetik des Schreckens, die auf einen Kommentar verzichtet und sich statt dessen auf ein diffuses Unbehagen, Gefühle und Kindheitserinnerungen zurückzieht? Das scheint ein zwiespältiger Ansatz, allzu defensiv angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, die kein Schicksal ist, sondern Verantwortliche kennt. So hat man beim Schauen dieses Films zuletzt doch den Eindruck, hier werde es explizit vermieden, Verantwortliche der Misere zu benennen.

Stattdessen setzt der Film auf Stimme und Gesicht der Wetteransagerin eines unabhängigen Fernsehsenders. Diese allerdings ist alles andere als gleichgültig. Sie operiert ständig mit erschreckenden Daten und Zahlen. Aber man spürt auch, dass sie hier auf verlorenem Posten steht. Was bedeutet denn jener Standpunkt der Kunst, den der Regisseur für sich reklamiert? Doch wohl radikaler an die Wurzel der falschen Verhältnisse zu gehen, als dies bloße Kritik an der herrschenden Politik vermag. Das wäre wahrhaft radikal, grundsätzlicher als alles bloß Meinungshafte. Aber dies geschieht hier – trotz anders lautendem Vorsatz – eben nicht. Die effektvoll montierten Bilder bekommen so etwas von einem Videoclip.

Die Unterzeile des Filmtitels »Invisible Demons« lautet »Klimaziel: verfehlt?« Das klingt aufreizend zeitgeistig. Denn hier geht es nicht zuerst um »Klimaziele«, die in einer mehr oder weniger fernen Zukunft liegen, hier und jetzt werden in Delhi massive Umweltverbrechen begangen, Unmengen ungeklärter Abwässer in Wohngebiete geleitet und ungefilterte Industrieabgase in die Luft geblasen. Tausende Menschen sterben jährlich an den Folgen.

Der Regisseur sagt, Delhi sei eine Megalopolis mit der Infrastruktur einer Kleinstadt. Auf den Straßen endlose Autokarawanen im Stau. Wohin führt solch Stillstand inmitten der Hochbeschleunigung, wenn nicht direkt in die Zerstörung? Wir erleben eine Stadt ohne jede innere Struktur und Ordnung. Die Bilder erinnern an Fellinis »Roma« aus den 70er Jahren, wo sich Autobahnen bis ins Stadtzentrum hineinbohrten. Inzwischen jedoch ist Italien rigoros im Schaffen von autofreien Innenstädten, davon ist das von großsprecherischen Grünen mitregierte Deutschland noch weit entfernt.

In Delhi wird nun auch für die Reichen in ihren geschützten künstlichen Mikrowelten die Luft langsam zu dünn zum Atmen – die indische Hauptstadt ist offensichtlich unbewohnbar geworden. Diese Stadt tötet massenhaft Menschen. Wer hier lebt, der vegetiert nur noch – von sozialem und kulturellem Leben keine Spur. Und das in einem riesigen Land, das sich seines wirtschaftlichen Aufschwungs rühmt, das längst nicht mehr arm ist! In Delhi scheint sich ursprünglich Positives ins Negative verkehrt zu haben, selbst der Monsunregen, der die Natur einst leben ließ, kommt nun als Sturzflut und reißt alles mit sich. Hier bekommt man einen Vorgeschmack auf die Apokalypse, die unvermeidlich scheint, wenn bisherige Entwicklungsländer auf ein antiquiertes kapitalistisches Modell setzen.

»Invisible Demons«, »Unsichtbare Dämonen«. Sie seien es, die, in Verbindung mit der Maschinenwelt, das derzeitige Übel verursacht hätten. Was meint jedoch Dämonen? Die winzigen, in der Luft schwebenden Partikel, die den Menschen vergiften, der sie einatmet – oder aber eine unheilvoll magische Kraft, die unsichtbar bleibt?

Das bleibt im Nebel, wenn der Regisseur das Phänomen Ausbeutung von Mensch und Natur zu erklären versucht. Aber skrupelloses Profitstreben ist kein Dämon, schon gar kein unsichtbarer. So hat die Absicht des Regisseurs, sich jeder Form von Reportage-Gestus zu enthalten, ihren Preis. Und der geht auf Kosten der Klarheit, letztlich des Verständnisses.

In seinem ersten Film »Machines« hatte Rahul Jain eine Textilfabrik gezeigt, die wie ein Vampir funktionierte. Weltweit zum Niedrigpreis gehandelte Kleidung entstand durch das Aussaugen derer, die hier arbeiteten. Doch »Invisible Demons«, sein zweiter Film, folgt einem anderen Ansatz, den der Regisseur für komplexer hält: Seit wann leben wir falsch? Das klingt wie ein universaler Ansatz, ist zuletzt aber doch eher moralisch, vielleicht sogar moralisierend gemeint. Jeder müsse bei sich beginnen, sich anders zu verhalten lernen.

Achtsamer leben, während man durch die übermächtig-feindlichen Umstände langsam ermordet wird? Das allerdings hieße, die Naivität auf die Spitze zu treiben.

»Invisible Demons«: Indien/Deutschland/Finnland 2021. Regie: Rahul Jain, Buch: Rahul Jain, Yaël Bitton, Iikka Vehkalahti. 66 Minuten. Jetzt im Kino.

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