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Napoleon der Philosophie

Eine neue Werkbiografie zu Johann Gottlieb Fichte ermöglicht die marxistische Rezeption des Philosophen und führt in die Konflikte der Gegenwart

  • Felix Klopotek
  • Lesedauer: 7 Min.
In den berühmt-berüchtigten »Reden an die deutsche Nation« von 1808 rief Johann Gottlieb Fichte das deutsche Nationalbewusstsein zum Widerstand gegen Napoleon auf.
In den berühmt-berüchtigten »Reden an die deutsche Nation« von 1808 rief Johann Gottlieb Fichte das deutsche Nationalbewusstsein zum Widerstand gegen Napoleon auf.

Was für ein Absturz! 1798 jubelte Friedrich Schlegel noch: »Die Französische Revolution, Fichte’s Wissenschaftslehre, Goethe’s [Wilhelm] Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.« Mittlerweile aber nimmt kaum jemand mehr Notiz von Johann Gottlieb Fichte. Die französische Revolution ist bis heute konstitutiv für das bürgerliche (Selbst-)Bewusstsein, auch die Linke sieht sich in ihrer Tradition; Goethe wird vielleicht nicht mehr gelesen, aber immer noch zitiert. Aber was hat Fichtes Wissenschaftslehre in dieser Reihe zu suchen? Warum steht da nicht Kant?

Heute ist Fichtes Werk eingesargt in eine 42-bändige Gesamtausgabe zum, wie der Verlag informiert, »Sonderpreis im Paket: € 11 214«. Die Fichte-Forschung ist unüberschaubar und vor allem unüberbrückbar weit weg von jeder Alltagspraxis. Dagegen erhebt die neu vorliegende Werkbiografie von Gerd Irrlitz mit dem bescheidenen Titel »Johann Gottlieb Fichte: Leben und Werk. Ein deutscher Philosoph in europäischer Umbruchszeit« entschiedenen Einspruch. Mit viel Engagement und einem mitreißendem, an Ernst Bloch geschulten Sound stellt Irrlitz Fichte als einen Denker aus der Unterschicht vor – und für die Unterschicht. Es ist kaum übertrieben zu behaupten, dass der Autor damit erstmals einen adäquaten marxistischen Umgang mit Fichte begründet.

»Ich« als Weltenschaffer

Wer Philosophie studiert und zu Beginn eine von diesen Überblickvorlesungen besucht hat, die sich pflichtgemäß in ein oder zwei Sitzungen auch dem Lausitzer Fichte widmen musste, wird sich über dessen Lehre bloß gewundert haben: Derart verstiegen wirkt es, die Philosophie nach dem so selbstverständlichen wie inhaltsleeren Grundsatz »Ich = Ich« aufzubauen und daraus unsere gesamte Beziehung zur Welt als »Ich setzt Nicht-Ich« abzuleiten. Ein Kindertraum: Ich halte mir die Augen zu, und wenn ich euch nicht mehr sehe, seht ihr mich auch nicht; »Ich« setzt »Nicht-Ich« und »Ich« kann diese Setzung wieder zurücknehmen. Um aus eigener Erfahrung zu sprechen, galt Fichte den meisten Erstsemestern einfach als kurios und niemand machte sich sonderlich Mühe, ihn verständiger zu erklären. Immer waren Kant und Hegel wichtiger, Fichte bloß ein Übergang. Sein Karriereabsturz setzte allerdings schon zu Lebzeiten ein. 

Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) war, seitdem er, der Plebejer-Sohn, Gänsehirte und Studienabbrecher, 1794 in Jena zu lehren begann – auf Vermittlung Goethes übrigens –, zunächst wirklich ein Star. Er war der Philosoph der Französischen Revolution, der deutsche Jakobiner, Neubegründer der Philosophie nach Kant, man musste ihn hören. Seine Schriften können das kaum vermitteln, Fichte verfasste sie häufig in großer Eile, damit sie den Hörern als Studienmaterial zu den Vorlesungen an die Hand gegeben werden konnten. Ihr sprachlicher Gestus war hastig, unduldsam und überkompliziert, der Vortrag selbst muss aber ganz anders gewesen sein. Fichte las wohl nie ab, zitierte sich auch nicht selbst, sondern entwickelte seine Gedanken immer wieder neu im Moment des Vortragens. Philosophie war ihm Tätigkeit, Denken Praxis, deshalb schaffte er für seine Vorlesungen auch den »Studenten« ab und sprach seine Hörer als »Studierende« an – als Tätige. 

Was ging dann bloß schief? Auf den ersten Blick war es »nur« der berüchtigte Atheismus-Streit, über den Fichte 1799 stolperte, der ihn zur Aufgabe seiner Professur in Jena zwang und ihn um seine größte Hörerschaft brachte. Sein Gott war nicht der Gott der Kirche und die Erhöhung des »Ich« zum Welt-Vermittler, ja Weltenschaffer, war jedem obrigkeitshörigen Beamten (also allen) zutiefst suspekt. Dabei war Fichte aber nicht nur Opfer; den Freundinnen und Freunden fiel auf, dass er sich als eine Art Napoleon der Philosophie inszenierte, ebenso herrisch und laut. 

So wie der französische Diktator die demokratische Revolution abwürgte, ihre Verfassungsprinzipen aber kriegerisch über ganz Europa brachte, so wendete Fichte seine Philosophie der Freiheit, der Entfesslung des niedergedrückten Ichs, der Entdeckung der unendlichen Kreativität des Selbstbewusstseins zu einer elitären Theorie des Absoluten, deutsch-national grundiert. Man musste Fichte hinter sich lassen. »Zweifle an der Sonne Klarheit/ Zweifle an der Sterne Licht/ Leser, nur an meiner Wahrheit/ Und an Deiner Dummheit nicht«: Diese Spottverse legten Karoline Schlegel und ihr Geliebter Schelling Fichte in den Mund. Goethe amüsierte es.

Das Bewusstsein der Freiheit ist in euch!

Gerd Irrlitz’ aktuelle Werkbiografie befreit Fichtes Philosophie nun von den Vorurteilen. Seine Darstellung ist praxisbezogen, radikal gegenwärtig, verzichtet auf langweiliges Nacherzählen und stellt Fichte als Denker der Selbsttätigkeit sowie Kritiker von jedem hohlen Werte- und Normen-Pathos vor. Damit bildet der Autor in der Fichte-Rezeption die große Ausnahme.

Irrlitz, 1935 in Leipzig geboren, von 1953 bis 1957 dort tatsächlich Schüler von Ernst Bloch, war selbst Philosoph in der DDR, unter anderem an der HU Berlin. Er wurde häufig zum Schweigen und lange Jahre um Publikationsmöglichkeiten gebracht; ein Außenseiter also, und als solcher hat er einen kritischen Blick auf die staatsoffizielle Geschichtsschreibung der Philosophie gewonnen. Alles lief damals sowieso auf Marx und Lenin hinaus, und was in diese Genealogie nicht passte, wurde eben passend gemacht. Der Materialist Irrlitz – und mit ihm andere Außenseiter wie Helmut Seidel, Peter Ruben, Camilla Warnke oder Wolfgang Heise – wertete dagegen die Tradition nicht als bloßen Vorlauf ab, sondern interessierte sich für ihre Eigenständigkeit. Einen geschlossenen philosophiegeschichtlichen Wurf konnte er zu DDR-Zeiten allerdings nicht publizieren.

Mit seinem »Kant-Handbuch« aus dem Jahre 2002 und jetzt der Fichte-Arbeit holt Irrlitz das nun nach. Seine Auseinandersetzung mit Fichte ist insofern originär marxistisch, als sie nicht auf eine Staatsphilosophie – »Marxismus-Leninismus« – hinauswill. Er befragt die Theorie auf ihre Freiheitsimpulse und bettet diese in den von Fichte theoretisch antizipierten Aufbruch der entwurzelten Plebejer ein, die noch kein Proletariat, erst recht keine Arbeiterbewegung sind. »Wir schaffen, ›setzen‹ etwas außer uns, das wir nicht mehr sind«, schreibt Irrlitz, »und, uns wieder zu finden, müssen wir uns nicht gerade mit dem Ungeheuer Welt auseinandersetzen, aber doch mit dem aus unserem Handeln entstandenen Realitätsteil von ihr«.

Sprich, Bewusstsein schafft Praxis, die das Bewusstsein verändere. Den von Absolutismus, Beamtenwillkür, hohlen philosophischen und verschlagenen kirchlichen Phrasen Drangsalierten verkündete Fichte die frohe Botschaft: Das Bewusstsein der Freiheit ist in euch – bringt es heraus! In Fichtes eigenen Worten: »Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation von den äußern Ketten den Menschen losreißt, reißt mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußern Einflusses los, u. stellt ihn in seinen ersten Grundsätzen als selbständiges Wesen hin.«

Das macht Fichte so gegenwärtig. Mit seinem Denken wird etwa die gesamte Identitätspolitik hinfällig, denn Fichtes Anfang »Ich bin Ich« ist gerade keine Identifizierung, deren Schema lautet, dass »Ich« sich mit »Ich« identifiziert und sich dann als »Ich« erkennt. »Ich bin Ich« aber ist ein unmittelbares – und universelles – Verhältnis: Dass Ich bin, geht mir unmittelbar auf. Diese Unmittelbarkeit fasse Fichte als ein Tun, als Handlung, als Tathandlung, wie er es euphorisch trunken nannte. Menschen begegnen sich in einem politischen, sozialen Rahmen demnach nicht als »Identitäten«, sondern als sich Entwerfende, als Setzende und sich Entfesselnde. Wo dies nicht möglich ist, herrschten falsche Abstraktionen und institutionelle Repression. Irrlitz resümiert: Fichtes »Handlungsbegriff kommt aus der plebejischen Erfahrung von Arbeit als Not und Pflicht, den Lebensgefahren zu widerstehen«.

Frei zur Herrschaft

Der Fichte-Bloch-Sound, den Irrlitz anstimmt, ist tatsächlich mitreißend. Darüber sollten aber die kritischen Rückfragen an Fichte wie an Irrlitz nicht vergessen werden. Wird in Fichtes Philosophie ab 1801 das entdeckte und in der Entdeckung befreite Ich nicht wieder gefesselt? Indem das Ich ans Absolute, also an Gott (Fichte war nie wirklich Atheist), rückgebunden oder ins nationale Wir integriert wird, ist es nur noch Abbild. Was bringt einem die ganze Ich-Emphase, muss man mit dem Philosophie-Kritiker Max Stirner fragen, wenn mit dem ICH gar nicht ich gemeint ist? Am Ende bedeutet es doch nur einen neuen Herrscher! Fichtes Ich ist dezidiert nicht das empirische Individuum, das seiner ganzen Bedürftigkeit dem absoluten Ich allzu bereitwillig untergepflügt wird. 

Und wieso geht Irrlitz nicht auf Fichtes antisemitisch gefärbte Religionskritik ein? Sie äußert sich als Verdacht gegen die Juden, einen Staat im Staat zu bilden und eben nicht den Geboten der ersehnten allgemeinen, antiabsolutistischen Sittlichkeit zu folgen. Angetreten, Ressentiments im Denken zu überwinden, trieft hier Fichtes Denken selbst vor diesen. Auch das macht ihn zu einem »zeitgemäßen« Denker: Sein Antijudaismus kommt daher wie ein heutiges islamkritisches Pamphlet à la Sarrazin.

Dennoch: Das Buch »Johann Gottlieb Fichte: Leben und Werk« eröffnet die Debatte über eine linke, marxistische Fichte-Rezeption für die Gegenwart. Und das führt mitten hinein in die Konflikte unserer Zeit.

Gerd Irrlitz: Johann Gottlieb Fichte: Leben und Werk. Ein deutscher Philosoph in europäischer Umbruchszeit. J. B. Metzler, 302 S., geb., 89,99 €.

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