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Für den Ausnahmefall

Der Bundestag hat am Donnerstag das Gesetz zur Triage beschlossen. Menschen mit Behinderung protestierten dagegen mit einer Schweigeminute

  • Kirsten Achtelik
  • Lesedauer: 4 Min.

»Heute verabschieden wir ein Gesetz, das hoffentlich niemals angewendet werden muss« – das war der Tenor der Reden aus der Ampel-Koalition bei der abschließenden Debatte für ein Triage-Gesetz. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach dankte dem medizinischen Personal, dass eine solche Selektion aufgrund fehlender Ressourcen wie Intensivbetten oder Atemgeräten bisher in der Corona-Pandemie in Deutschland nicht nötig gewesen sei. Künftig sei aber mit weiteren Pandemien und Infektionskrankheiten zu rechnen. Das nun verabschiedete Gesetz legt fest, dass im Falle eines Versorgungsengpasses nur nach der »aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit« der Patient*innen entschieden werden darf, wer die spärlichen Ressourcen bekommt. Andere Kriterien wie das Alter oder eine Behinderung dürfen keine Rolle bei der Zuteilung spielen.

Menschen mit Behinderung hatten bereits 2020 Verfassungsbeschwerde erhoben, weil sie befürchteten, dass Menschen mit Behinderungen bei der Zuteilung überlebenswichtiger Ressourcen benachteiligt werden könnten. Anlass war eine Empfehlung der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Diese hatte für die Zuteilung im Fall einer Triage auch Kriterien wie Gebrechlichkeit vorgeschlagen, die Menschen mit Behinderung benachteiligt hätten. Das Gericht urteilte im vergangenen Jahr, dass der Staat die Pflicht habe, Menschen vor solch einer Benachteiligung zu schützen. Lauterbach begrüßte in der Bundestagsdebatte zwar den Behindertenbeauftragten der Bundesregierung Jürgen Dusel und dankte ihm für die Zusammenarbeit. Betroffene kamen jedoch nicht zu Wort und von keiner Fraktion ergriff die*der behindertenpolitische Sprecher*in das Wort. Einzig Sören Pellmann von der Linkspartei ging direkt auf die Proteste von Menschen mit Behinderung ein, die wenige Stunden zuvor vor dem Bundestag stattgefunden hatten.

Mit einer Schweigeminute unter dem Motto »Jedes Leben ist gleich viel wert« hatten Menschen mit und ohne Behinderung auf ihre Kritik an dem Gesetzentwurf aufmerksam gemacht. Auch das Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit könne für Menschen mit Behinderung ungewollt unbewusste Benachteiligungen in Zuteilungsentscheidungen bewirken. Dies sei nicht menschenrechtskonform. Konstantin Grosch, einer der Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht, warf den Gesetzgebern vor, ein »Survival of the fittest« zu fördern. Das Deutsche Institut für Menschenrechte erklärte, die Menschenwürde verbiete eine Abstufung oder Bewertung menschlichen Lebens durchzuführen oder zu legitimieren. Die Behindertenbewegung fordert, das Gesundheitssystem so zu gestalten, dass es nicht zu lebensbedrohlichen Ressourcenknappheiten kommt.

Die Aktivist*innen kritisieren, dass sie in den Gesetzgebungsprozess nicht ausreichend einbezogen worden sind und fordern das Kriterium der »kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit« mit dem Zufallsprinzip zu ersetzen. Nur ein solches, nicht an die betroffene Person gekoppeltes Kriterium könne auch unbewusste Diskriminierung verhindern. Das ist aber nicht mit dem Ziel vereinbar, so viele Leben zu retten wie möglich.

Lauterbach verteidigte seinen Gesetzentwurf und versprach zum wiederholten Mal, mit einer Reform der Krankenhausstruktur gegen drohende Versorgungs-Engpässe vorzugehen. Es sei immer unethisch, Menschen mit Behinderung zu benachteiligen, die Verfahren müssten streng medizinischen Kriterien folgen. Der Gesundheitsausschuss hatte mehrere Änderungen des Gesetzentwurfes vorgeschlagen, darunter eine Dokumentationspflicht und eine Evaluation des neuen Gesetzes. Ungewöhnlicherweise stimmten einige Abgeordnete aus den Reihen der Koalition gegen den Gesetzentwurf und verweigerten sich der Fraktionsdisziplin. Daher erfolgte eine namentliche Abstimmung, in der zwei Abgeordnete der FDP und fünf grüne Abgeordnete dagegen stimmten, darunter die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen, Corinna Rüffer.

Der Ärzt*innen-Verband Marburger Bund spricht sich dagegen für die wieder aus dem Gesetz entfernte Ex-Post-Triage aus, da die »Rettung vieler Menschenleben Priorität« haben müsse. Ex-Post-Triage bedeutet, dass Menschen, die bereits an lebenserhaltende Maschinen angeschlossen sind, wieder abgeklemmt werden können, wenn ein*e Patient*in eingeliefert wird, die*der die Hilfe vermutlich dringender braucht und bessere Überlebenschancen hat. Diese Regelung aus dem ersten Gesetzentwurf war scharf kritisiert worden, da es effektiv bedeutet, dass die Behandlung einer*s Patientin*en zugunsten einer*s anderen abgebrochen wird. Auch die DIVI kritisierte das nun verabschiedete Gesetz: Das Verbot der Ex-Post-Triage verhindere, dass die Person behandelt werde, die aus ärztlicher Sicht die beste Chance habe, durch die Intensivmedizin zu überleben. Kirsten Kappert-Gonther von den Grünen betonte, dass eine Therapieplanänderung beispielsweise hin zu einer palliativen Versorgung weiterhin problemlos möglich sei.

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