Lust auf Zukunft

Neues Menschenbild: Das Berliner No-Limits-Festival zeigt Tanz und Theater von und für Personen mit und ohne Behinderung

  • Judith Sieber
  • Lesedauer: 5 Min.
Zwischen Wahrsagerei, Akrobatik und Tanz: Die deutsch-schweizerische Produktion "No Gambling"
Zwischen Wahrsagerei, Akrobatik und Tanz: Die deutsch-schweizerische Produktion "No Gambling"

Wie ist der Zugang zu Theaterbühnen geregelt? Wer steht auf den Bühnen, und was sind eigentlich notwendige Fähigkeiten des Publikums? Wie inklusiv oder exklusiv sind Theaterinstitutionen? Für die Zeit des No-Limits-Festivals mit dem Untertitel »Disability & Performing Arts« (Behinderung und darstellende Künste) wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf Barrieren und Ausschlüsse gelegt, die für Menschen ohne Behinderung meist unsichtbar sind. Vom 9. bis 19. November findet das Festival zum zehnten Mal an fünf Berliner Aufführungsorten statt, unter anderem im HAU – Hebbel am Ufer.

No Limits ist das größte Tanz- und Theaterfestival Deutschlands, das den Fokus auf Behinderung legt, und wurde in diesem Jahr mit dem Wiener Choreografen Michael Turinsky zum ersten Mal auch von einem Künstler mit Behinderung kokuratiert. Auf der Bühne stehen behinderte sowie nicht behinderte Menschen, und die Themen der gezeigten Arbeiten sind breit gefächert.

Im Gegensatz zu anderen beteiligten Bühnen wie dem Theater Thikwa oder dem Rambazamba sind zwei der drei Bühnen des HAU schon rein baulich nicht barrierefrei angelegt. Die Behauptung »No limits« macht aber auch Probleme und scheinbare Selbstverständlichkeiten augenscheinlich, die über physische Barrieren hinausgehen. Für das Festival finden sich auf der Website des HAU Erläuterungen in einfacher Sprache, und auch ein entsprechendes Begleitheft liegt aus. Zudem gibt es alternative Sitz- und auch Liegemöglichkeiten im Raum, Audiodeskription, eine Übersetzung in deutsche Gebärdensprache und die Möglichkeit, eine Haptic-Access-Tour, eine Tastführung für blinde und sehbehinderte Menschen, zu buchen.

Mit »No Gambling« von Simone Aughterlony und Julia Häusermann eröffnete eine deutsch-schweizerische Produktion das Festival. Drei Performer*innen bespielten den Bühnenraum des HAU 2 mit einem Wechsel von Showeinlagen wie Wahrsagen durch Würfeln, Akrobatik und Tanzszenen. Das Bühnenbild bestand aus verstreuten Requisiten, die einer Spielhalle entstammen könnten, sowie einem großen Perpetuum mobile, auf dem sich einzelne Performer*innen zwischenzeitlich ausruhten. Dazwischen bewegten sich alle drei unabhängig voneinander, und auch der Zusammenhang der einzelnen Szenen blieb über den Verlauf eher lose und assoziativ.

Die Beziehung zum Publikum wurde jedoch immer wieder hergestellt, vor allem durch Julia Häusermann, die einzelnen Personen aus dem Publikum schreckliche Nachrichten weissagte, so einen Gehirntumor oder eine bevorstehende Totgeburt, und humorvoll mit den entstehenden amibivalenten Reaktionen spielte.

Die Ansprache und Forderung an das Publikum beeindruckte aber vor allem in der anschließenden Inszenierung »Das Narrenschiff«, einer deutsch-belgischen Koproduktion des Regiekollektivs Monster Truck und der belgischen Tanzkompanie Platform-K, die auf der großen Bühne des HAU 1 zu sehen war. Vom Publikums- und hinteren Bühnenraum her traten zehn Personen in Leder- und neongrünen Outfits auf die Bühne, in deren Hintergrund lediglich eine lange Tafel mit weißer Tischdecke platziert war. Das Publikum wurde von der Bühne aus beleuchtet, während die Performer*innen zunächst ziemlich cool von dieser herunterblickten.

Der erste Teil des Stücks bestand aus einer Ansprache an die Zuschauer*innen durch einen Text, der auf einem großen Screen eingeblendet wurde. Der Begriff »Narrenschiff«, so vermittelte der Text, verweist auf die mittelalterliche Praxis, behinderte Menschen auf Schiffen dem Tod auszusetzen. Doch hier, so der Text weiter, gibt es keine Narren und auch kein Schiff. Die Performer*innen wollten kein Mitleid vom Publikum; es gehe ihnen aufgrund ihrer Behinderung nicht schlecht, und sie seien auch nicht irgendwie »niedlich«. Dabei handele es sich um Projektionen des eigenen Unglücks nicht behinderter Menschen, auf welche die Gruppe keinen Bock mehr habe.

Danach gingen die Performer*innen langsam auf die Tafel zu, setzten sich – wodurch für einen Moment die Assoziation zu da Vincis »Das letzte Abendmahl« aufgerufen und die angesprochene Idee der mittelalterlichen Narrenschiffe auf interessante Weise ästhetisch damit verschränkt wurde – und verkündeten, dass ihnen langweilig sei und sie Spaß haben wollten.

Von diesem Moment an drehte sich das Stück in eine exzessive Partyszene, extrem lustvoll und mit viel Körperkontakt zwischen den Performer*innen. Licht und Musik unterstützten den Effekt. Das Publikum durfte zusehen, wie die Performer*innen äußerst sinnlich Kartoffelchips aßen (der Geruch nach Paprikagewürz blieb für den Rest der Vorstellung präsent) und sich zu lauter Technomusik aneinander rieben. Durch den harten Bruch wurde in äußerst kurzer Zeit ein Akt der Selbstermächtigung vorgeführt, die keiner Legitimation oder Unterstützung des Publikums bedurfte.

Das Tanzstück »Soiled« von Michael Turinsky war sicher einer der Höhepunkte des Festivals. Die Arbeit wird durchgängig von einer ruhigen, aber eindringlich bassigen Musik und einer Audiodeskription getragen, die auf poetische Weise beschreibt, was auf der Bühne geschieht, aber auch darüber hinausgeht, denn sie thematisiert das Menschsein selbst.

Zentral auf der Bühne steht ein riesiges weißes Gummibecken mit schwarzem Rand. Darin bewegen sich drei Performer*innen rhythmisch, manchmal zuckend, vereinzelt oder verschlungen. Von der Decke tropft literweise Kürbiskernöl in das Becken und färbt es grün. Die Körper bewegen sich liegend oder kniend, drehen sich von der einen auf die andere Seite und gleiten und verschwinden am Ende schließlich über den Rand des Beckens. Die Stimme beschreibt Vögel, die zum Himmel streben, ruft aber immer wieder auch Verbindungen zur Erde auf, auf der sich die Körper drehen. Durch die Beschreibungen durchschreiten die Bewegungen verschiedene Sinne, sie sind nicht allein visuell erfassbar, vielmehr verbinden sich mehrere Zugänge zum Stück und lassen ein Gefühl der Ruhe entstehen.

»Soiled« löst das rationale, erhabene und aufrechte Menschenbild ab, das seine Wurzel in der europäischen Aufklärung hat, und entwirft einen bodennahen, verbundenen und auch spielerischen Menschen. Nicht zuletzt dadurch macht das Festival große Lust auf eine Zukunft, in der Theater selbstverständlich viel inklusiver programmiert ist und verschiedene Perspektiven über unterschiedliche Sinne zum Ausdruck kommen können.

Das No-Limits-Festival findet bis zum 19. November statt.
www.no-limits-festival.de

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