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Reform im Ungleichland
Der Bund will das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz reformieren – das Berliner Antidiskriminierungsgesetz könnte Inspiration sein
Elif Eralp freut sich: »Ein Raum voller Antidiskriminierungsexpert*innen!« Damit meint die Sprecherin für Antidiskriminierung der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus nicht nur das prominent besetzte Podium: Die Berliner Staatssekretärin für Vielfalt und Antidiskriminierung Saraya Gomis, die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes Ferda Ataman, die Journalistin und Beraterin gegen Ableismus Judyta Smykowski und die Leiterin des deutschen Antidiskriminierungsverbandes Eva Maria Andrades wollen über die anstehende Reform des bundesweiten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) reden. Auch im Publikum sitzen Verteter*innen von Verbänden, Beratungsstellen sowie Rechtsanwält*innen, die sich gegen Diskriminierung einsetzen. Man kennt sich.–
Die Runde ist zusammengekommen, um über einen lang ersehnten Moment zu reden: Das AGG wird reformiert. Seit Inkrafttreten vor 16 Jahren wird es als zahnlos und unzureichend kritisiert. 2016 stellte die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in einer Evaluation massive Schwachstellen fest. Jetzt, wo eine Reform im Koalitionsvertrag verankert ist, wollen Expert*innen von Landes- und Bundesebene das neue Gesetz mitgestalten. Es geht ihnen um nicht weniger als eine »Straßenverkehrsordnung, die das gesellschaftliche Miteinander regelt« – so bezeichnet Ferda Ataman die rechtlichen Bedingungen, um sich gegen Diskriminierung zu wehren und Benachteiligungen, Verletzungen und Ausschlüsse bestimmter Personengruppen zu mindern.
»Es ist wichtig, dass sie umfassend ist, denn nach meiner Erfahrung wird ein verändertes Gesetz nicht ein, zwei Jahre später gleich wieder angefasst«, betont Eralp. Sie schreibt an einem Antrag für eine Bundesratsinitiative: Einmal vom Abgeordnetenhaus und Senat abgesegnet, kann Berlin damit die anderen Bundesländer auffordern, gemeinsam einen Gesetzesvorschlag in den Bundestag zu geben. Der soll möglichst viele Diskriminierungsperspektiven und Wünsche Betroffener einschließen.
Nicht ohne Grund sieht Eralp eine Verantwortung bei Berlin, sich in den Prozess der AGG-Reform einzumischen. Viele Lücken, die es nun auf Bundesebene zu schließen gilt, hat das Land schon mit dem eigenen Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) bearbeitet. Ein zentraler Punkt: die Ausweitung auf öffentliche Stellen. Bisher greift das AGG nur gegenüber privaten Akteur*innen, etwa bei Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt oder durch Arbeitgeber*innen. Staatliche Institutionen sind komplett außen vor gelassen. »Das ist nach wie vor interessant, dass der Staat mehr von Unternehmen erwartet als von sich selbst«, bemerkt Ferda Ataman. Das Landesgesetz erlaubt hingegen Beschwerden gegen Behörden, Verwaltungen und landeseigene Unternehmen, kurz: gegen das Land.
Wichtig ist Ataman außerdem das Verbandsklagerecht. Das Bundesgesetz erlaubt aktuell nur individuelle Klagen, während in Berlin Betroffene, die vor Gericht gehen wollen, von Organisationen repräsentiert werden können. Für Elif Eralp ist das ein entscheidender Punkt. Sie denke an Geflüchtete, die in Ämtern Diskriminierung erleben, sich aber nicht persönlich beschweren wollen, aus Angst, dass es sich negativ auf ihr Asylverfahren auswirken könnte. »Deshalb sind Klagerechte so wichtig.«
Die erste Verbandsklage nach dem LADG erfolgte im Februar dieses Jahres von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) gegen die Humboldt-Universität. Die Organisation prangerte die diskriminierende Praxis an, trans und nichtbinären Studierenden angepasste Studierenden-Ausweise zu verweigern. »Andernfalls führen alltägliche Anlässe wie eine Ticketkontrolle mit Studierendenausweis in der U-Bahn zu diskriminierenden Situationen«, so eine Anwältin der GFF. Ein Urteil steht allerdings noch aus.
Ohnehin bietet auch das LADG noch viel Raum für Verbesserung. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass sich zwar viele Menschen an die Ombudsstelle wenden, die diskriminierte Personen begleitet: Insgesamt 1120 Beschwerden sind laut Saraya Gomis seit Inkrafttreten des Gesetzes im Juni 2020 eingegangen.
Doch Klagen entstehen daraus sehr wenige – erst ein einziges Urteil ist in den zweieinhalb Jahren basierend auf dem Berliner Antidiskriminierungsgesetz gefallen, und das auch noch mit einer Absage an die Klägerin. Sie hatte sich an das Gericht gewandt, weil sie sich an dem Wasserspielplatz Plansche im Plänterwald in Treptow-Köpenick im Gegensatz zu Männern nicht oberkörperfrei aufhalten durfte.
Dass bisher nur wenige Fälle vor Gericht landen, zeigt laut Saraya Gomis, dass nicht alle gleichen Zugang zum Recht haben. »Es gibt eine spezifische Fachsprache, die man verstehen muss, ähnlich wie bei Gebrauchsanweisungen.« Mittlerweile gebe es Schulungen zum LADG, um über die rechtlichen Möglichkeiten aufzuklären. Ihre Ombudsstelle sei zudem in Kontakt mit Jura-Referendar*innen, um das Wissen über Antidiskriminierungsgesetze in der Ausbildung zu verankern.
Nicht nur auf der Umsetzungsebene gibt es beim LADG noch Luft nach oben. Auch inhaltlich repräsentiert es nach wie vor nicht alle relevanten Diskriminierungsformen. Es hat zwar den Merkmale-Katalog erweitert und führt im Gegensatz zum Bundesgesetz etwa chronische Krankheiten auf. Was hingegen weder LADG, AGG noch sonst irgendein Antidiskriminierungsgesetz im Speziellen benennt, ist die Diskriminierung dicker Menschen.
Gegen diese Leerstelle kämpft Natalie Rosenke, die Vorsitzende der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung. Auf der Veranstaltung meldet sie sich aus dem Publikum zu Wort und erinnert daran, wie wichtig es sei, die Diskriminierung dicker Menschen explizit zu benennen. Gewicht dürfe nicht unter die Kategorie »chronische Krankheit« fallen, denn das würde nicht der tatsächlichen Gewichtsvielfalt von Körpern entsprechen. Auch der Überbegriff »äußeres Erscheinungsbild« werde der strukturell tief verankerten Fettfeindlichkeit nicht gerecht. »Sonst laufen wir Gefahr, dass Gewichtsdiskriminierung wieder vergessen wird.«
In einem anschließenden Gespräch mit »nd« macht Rosenke das Ausmaß von Gewichtsdiskriminierung deutlich. In Umfragen zu diskriminierenden Erfahrungen hätten die meisten Menschen Benachteiligung aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes erlebt – bei genauerer Nachfrage betraf dies bei über 50 Prozent der Befragten das Körpergewicht. »Das fängt schon im Kindergarten an – dicke Kinder bemerken, dass sie anders behandelt werden. Niemand will mit ihnen spielen«, sagt Rosenke. In der Schule erlebten sie Mobbing, »aber das geht nicht nur von Mitschülern aus, wir sehen auch schlechtere Benotung.«
Dicke Körper würden als defizitär betrachtet, »wie ein persönliches Verschulden, wogegen nur die richtigen Maßnahmen ergriffen werden müssen«. So eine unterkomplexe Betrachtung entspreche aber nicht den vielfältigen Faktoren, die das Körpergewicht beeinflussen. »Dazu zählt auch einfach die genetische Veranlagung. Dicke Menschen werden also dazu angehalten, gegen ihre Gene zu kämpfen.«
Erschreckend sei auch der Blick in die Arbeitswelt, sagt Natalie Rosenke. So habe eine Studie der Universität Tübingen gezeigt, dass 98 Prozent der untersuchten Personaler*innen dicken Frauen keine prestigeträchtigen Berufe wie Ärztin oder Professorin zutrauen. »Natürlich gibt es da die Geschlechtskomponente«, sagt Rosenke. Für Männer würde bei Karrierefragen eher die Körpergröße eine Rolle spielen, ebenfalls ein Marker für Attraktivität.
Eine Ergänzung in Gesetzestexten würde es betroffenen Menschen einerseits erlauben zu klagen. Besonders dringlich erscheint Rosenke die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Bei der Verbeamtung gelte Mehrgewicht oft als Ausschlusskriterium. Es gibt zwar offiziell keine Regelung, die einen maximalen Body-Mass-Index vorschreibt. »Trotzdem haben wir immer wieder Fälle, wo Menschen mit der pauschalen Begründung, dass hohes Gewicht mit bestimmten Krankheiten assoziiert sei, abgelehnt werden.«
Und das auch in Berlin. Rosenke bezieht sich auf eine schriftliche Anfrage der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Die ergab im Oktober, dass im laufenden Jahr 2022 bereits 61 Personen wegen ihres Körpergewichts von der Verbeamtung ausgeschlossen wurden. »Viele denken dann an Feuerwehr oder Polizei, aber das deckt sich nicht mit unseren Erfahrungen«, ergänzt Rosenke. »Oft geht es um Stellen in Behörden wie dem Fachbereich Finanzen, eine hauptsächlich sitzende Tätigkeit.« Neben der Arbeitswelt weist sie auf die systematische Benachteiligung im Gesundheitssystem hin. Fehldiagnosen seien an der Tagesordnung, »das kann zu nachhaltiger Schädigung führen«.
Eine Erwähnung in den Antidiskriminierungsgesetzen würde nicht nur den Weg bis zur Entschädigung vereinfachen. Sie wäre die Voraussetzung für ein staatlich gefördertes Beratungs- und Unterstützungsnetzwerk. Bisher gibt es keine offiziellen Stellen, die sich speziell an dicke Menschen richten. Manche Beratungsangebote würden zwar intersektional arbeiten und dementsprechend Gewichtsdiskriminierung anerkennen. »Aber weil sie dafür nicht gefördert werden, taucht der Punkt nicht auf ihren Websites auf. Somit sind sie für dicke Menschen nicht sichtbar.«
Eine weitere Hoffnung: Mehr Sensibilisierung durch gesetzliche Repräsentation. Aufklärungsmaßnahmen für angehende Lehrer*innen oder für die Verwaltung hingen eben an den Merkmalen, die im Gesetz stehen, erklärt Rosenke. »Das wäre eine Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Wandel.« Warum Gewicht nicht Teil des LADG ist, kann sie sich selbst nicht so richtig erklären. Eigentlich hätten die Koalitionsparteien im Vorfeld ihre Unterstützung zugesagt. »Dann haben wir uns gewundert, dass es nicht darin gelandet ist.«
Saraya Gomis erklärt, dass das Merkmal zwar in der ursprünglichen Vorlage untergekommen sei, dann aber am Verhandlungstisch nicht bestanden hätte. »Aber das bedeutet nicht, dass wir es nicht weiter versuchen werden.« Das LADG, so steht es im rot-grün-roten Koalitionsvertrag, soll 2024 »unter Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen« evaluiert und weiterentwickelt werden. Rosenke und andere Veranstaltungsteilnehmer*innen geben jetzt schon Verbesserungsvorschläge – Gomis schreibt fleißig mit.
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