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- Chagall-Ausstellung
Gelber Rauch über dem Schtetl
Bilder einer sich verfinsternden Zeit: Die Schirn-Kunsthalle in Frankfurt am Main fragt nach Marc Chagalls Auseinandersetzung mit dem Holocaust
Wenn die Füße in der Luft hängen, steht die Welt Kopf. Vertraute Gewissheiten gelten nicht mehr. 1923, im Jahr des Hitler-Putsches, bringt Marc Chagall eine solche aus den Fugen geratene Ordnung auf die Leinwand. »Engelsturz« heißt die verstörende Szenerie, die vom Künstler in diversen Skizzen vorbereitet und bis zur letztgültigen Fassung 1947 mehrfach verändert worden ist. Der kopfüber fallende Himmelsbote glüht in einem teuflischeren Rot als alle Höllenteufel; sein Mund formt sich zu einem stummen Schrei, der im kalten Nachtblau ungehört verhallt. Diese Allegorie einer sich verfinsternden Zeit bildet nun das Herzstück der großen Schau der Schirn-Kunsthalle in Frankfurt am Main, die sich dem bekannten Maler und Grafiker aus ungewohnter Perspektive nähert.
Traditionell stehen Chagall-Präsentationen, aber auch Chagall-Kalender, -Briefmarken etc. zur (Vor-)Weihnachtszeit hoch im Kurs. Schließlich hat kein anderer Vertreter der klassischen Moderne die Motive der Bibel so massenkompatibel verlieblicht und durch den Zuckerbrei des dekorativen Kitsches gezogen wie der Sohn eines jüdischen Arbeiters aus dem heutigen Belarus. Freund*innen einer intellektuelleren Bildkultur indes bleiben den Pulks, die sich regelmäßig vor Chagalls buntem Zirkusgewimmel, Blumenstrauß-Madonnen oder Hochzeitspaaren drängeln, meist fern.
Der Schirn gelingt es nun tatsächlich, Chagall vom Image des trivialen Farbenschwärmers zu befreien. Unter dem Titel »Welt in Aufruhr« rückt seine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Diktatur und dem Holocaust in den Vordergrund. Früher als andere spürte der mehrfach Vertriebene, was Europa drohte. So darf man einige Werke der großzügig gehängten Schau mit Recht als Vorahnungen bezeichnen.
Marc Chagall kommt 1887 unter dem Namen Moshe Segal im weißrussischen Witebsk zur Welt. Schon im Zarenreich erfährt er aufgrund seiner jüdischen Herkunft Ausgrenzung und strukturelle Gewalt. Nicht zuletzt die unter dem Sowjetsystem weiter andauernden Pogrome veranlassen ihn 1923, seine Arbeit als Bühnengestalter in Moskau aufzugeben und über Berlin nach Paris ins Exil zu gehen. Als er und seine Frau mit dem Einmarsch der Deutschen auch in Frankreich um ihr Leben fürchten müssen, flieht das Paar in die USA.
Im Œuvre des Künstlers spielen spezifische Aspekte des Judentums auf mehreren Ebenen eine Rolle, nicht nur bei der vielfach reproduzierten Bibel-Illustration. Bereits in einem Selbstbildnis der 1920er Jahre stellt sich Chagall mit Kippa und Gebetskapsel auf einem jüdischen Grabstein hockend dar. In Frankfurt ist dieses Porträt nicht vertreten, denn Kuratorin Ilka Voermann konzentriert sich bewusst auf die 30er und 40er Jahre. Zu dieser Zeit verstärkt der eskalierende Rassismus in Europa Chagalls solidarische Identifikation mit der Glaubenswelt seiner weißrussischen Jugend. Häufig verbindet er nun christliche und jüdische Einflüsse. So interpretiert »Die Kreuzigung in Gelb« (1942) die Gestalt Jesu durch Attribute wie Thora oder Gebetsriemen eher als jüdischen Märtyrer.
Aus »Einsamkeit«, dem 1933 entstandenen Porträt eines orthodoxen Juden, spricht dagegen lähmende Schwermut angesichts der aufziehenden faschistischen Stürme. Während der Mann mit der linken Hand verzweifelt eine Thorarolle umklammert, stützt die Rechte den niedergebeugten Kopf. Eine kunsthistorische Referenz an Albrecht Dürers Personifikation der Melancholie.
Mit welchen Mitteln aber reagiert ein der Harmonie und Schönheit verpflichteter Maler auf das Inferno der industriellen Ermordung von Menschen? Die naturalistische Konfrontation mit Deportationszügen oder Konzentrationslagern meiden die Gemälde. Das Problem, das den Künstler, der 1941 in die USA auswanderte, beschäftigte, gleicht dem Dilemma vieler Schriftsteller. Wo sich ein Paul Celan und eine Rose Ausländer fragten, in welche Worte man das unsagbare Grauen der Vernichtungslager fassen könne, ohne in den Jargon der Täter zu verfallen, suchte der dem Traum und der Mythologie verpflichtete Maler nach einem Bildverfahren, das die Bestialität des Realen nicht auf den Realismus der Dokumentation reduziert, sondern einer dunklen, elegischen Klage der Überlebenden Ausdruck verleiht.
Ähnlich wie die Literatur entschied sich auch der Maler für eine Sprache der Chiffren und der doppeldeutigen Verweise. In »Krieg« von 1943 wabert giftgelber Rauch über dem Schtetl, während im Gewölk die Fata Morgana eines Soldatentrupps auftaucht. Die Feinde oder die Befreier?
Radikal in seinem Symbolismus ist auch der »Gehäutete Ochse« (1947), dessen kopfüber aufgehängter Kadaver an einen grausam Gemarterten denken lässt. Fast scheint es, als würde die tote Zunge des Tieres aus dem Bottich am Boden das eigene Blut auflecken. »Lasst uns nicht wie die Schafe zur Schlachtbank gehen!« – vielleicht hatte Chagall beim Malen diesen berühmten Aufruf des litauischen Autors und Widerstandskämpfers Abba Kovner im Ohr.
Mit ihren rund 100 Exponaten leistet die Ausstellung einen klugen und wichtigen Beitrag zu einer Gedächtniskultur, die sich aktuell wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik mit ideologischen Attacken konfrontiert sieht. Beinah täglich dröhnen aus neurechten Winkeln Forderungen, doch endlich einen Schlussstrich unter ganz bestimmte Vergangenheiten zu ziehen. Angesichts der zunehmenden rassistischen Affekte, der immer aggressiveren Fackel- und Trommel-Märsche, setzt die Schirn nun ein stilles schönes Zeichen, das Erinnern an die von Deutschland ausgehenden Menschheitsverbrechen wachzuhalten. Dass dieses Zeichen von einem ästhetisch zwar manchmal unterkomplexen, aber populären Künstler kommt, ist dabei kein Nachteil: Je mehr Menschen dank Chagall zum Nachdenken über die Shoa bewegt werden, umso besser. Auch deshalb sei der Frankfurter Schau ein großer Publikumsansturm gegönnt.
»Chagall. Welt in Aufruhr«, bis zum 19. Februar, Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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