- Kultur
- Letzte Generation
Irreparables Idyll
Klimaschutz ist kein Verbrechen: Warum die Letzte Generation die Solidarität der Kunstschaffenden verdient
Als ich vor einigen Tagen in Köln mit der Letzten Generation eine Ausfahrt der A57 blockierte, geschah etwas Schönes. Zwar wurden aus dem sich bildenden Stau auch die üblichen Hassparolen wie »Abreißen!« oder »Hände abhacken!« gerufen. Aber vielen war es wichtiger, Fotos zu machen. Man wollte das Erlebnis schnell mit Freunden teilen. Einer rief am Handy aufgeregt: »Guck dir das an! Das sind die – kein Scheiß, ey!«
Eine Frau hockte sich neben ihre kleine Tochter und erklärte, was zu sehen war, als wären wir eine Illustration im Ali-Mitgutsch-Wimmelbuch. Ein stämmiger Mann schritt filmend unsere Reihe ab und kommentierte dabei recht gutgelaunt: »Fotze Nr. 1, Fotze Nr. 2, Fotze Nr. 3 …« Ich war am Ende Fotze Nr. 8. Er muss sich verzählt haben. Wir waren zu siebt. Jedenfalls hatte er über seiner Kameraarbeit den Augenblick, richtig wütend zu werden, verpasst.
Ein Deutsch-Iraner kam nach vorne. Höflich fragte er, wie lange es dauern würde. Sein Chef warte auf ihn. Die Iraner würden ja am Dom demonstrieren, das könnten wir doch auch. Wir sprachen darüber, und am Ende sagte er: »Ich versteh euch. Scheiße für mich, aber ist schon in Ordnung.« Er fragte, ob er fotografieren dürfe, um seine Zwangslage zu belegen. Dann machte er das Daumen-hoch-Zeichen und ging zurück zu seinem Auto. Hinter mir murmelte ein junger Polizist zur Kollegin: »Die haben ja eigentlich recht.«
Es war, als hätten an diesem verregneten Novembermorgen, an dem so unerwartete Gespräche entstanden, viele gespürt, dass die automobile Bewegungsfreiheit eigentlich ein billiger Betrug ist. Jeder weiß doch, dass der Autoverkehr an sich selbst erstickt. 2021 gab es alleine auf den kurzen Autobahnen Berlins 58 141 Staumeldungen. Gesamtlänge: 43 858 Kilometer. Das ist einmal um die ganze Welt.
Das Konzept »Recht auf freie Bewegung« ist Teil des Projekts der kapitalistischen Moderne. Souverän zu wirtschaften, frei zu denken und ungehindert sich zu bewegen, sind drei Dimensionen bürgerlicher Identität. Der Kapitalismus schaffte die Allmacht der absolutistischen Fürsten nicht ab, sondern hat sie auf sämtliche »freien Bürger« verteilt. So entsteht ein ganzes Heer von Zwergenkönigen, die alles sagen dürfen, aber nichts zu melden haben. Ihre bunt lackierten Kutschen sind aus Blech. Das bürgerliche Individuum erlebt ein System anonymer, disseminierter Herrschaft, in dem Macht und Machtlosigkeit, Freiheit und Zwang in eins fallen. Bei einer Straßenblockade in Bonn schrie mich ein Mann aus dem Autofenster an: »Sie hindern mich daran, mein Leben zu leben!« Ich fragte ihn, was er vorhätte. Er musste zu einem Termin mit seinem Chef.
Die Summe all der Wege, die so fleißig zurückgelegt werden, soll ja Fortschritt sein: Alles wird immer besser, es gibt immer mehr zu kaufen. Fortschritt aber setzt als unbewegten Hintergrund eine statische, stets als Rohmaterial zur Verfügung stehende Natur voraus. Und wie schon Marx voraussah, gerät diese Natur unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen selbst in Bewegung. Von Schnee- und Gletscherlast befreit, beginnen Berge zu bröckeln. Im Sommer meiden die Bergführer deshalb bereits den Montblanc. Menschen bewegen inzwischen mehr Sedimente als alle Flüsse weltweit. In Florida reißen Hurrikane so viel Sand von den Stränden, dass es keinen mehr zu kaufen gibt, um das Idyll zu reparieren. Die Ackerböden weltweit degenerieren unter dem Druck industrieller Bewirtschaftungsmethoden. Der Kapitalismus verdaut den ganzen Planeten. Nichts bleibt übrig. Der feste Grund, auf dem die modernen Mini-Machthaber, die »freien Bürger«, in Richtung Zukunft zu schreiten glauben, bewegt sich längst mit.
Nicht zufällig ist Kunstsinn Teil der bürgerlichen Ideologie. Jenseits der hektischen Betriebsamkeit verheißt Kunst den tröstlichen Kontakt mit ewig Gutem, Wahrem, Schönem. Wer zur Andacht nicht mehr in die Kirche geht, verrichtet sie im Potsdamer Barberini-Museum vor einem Getreideschober von Monet. Wo die kapitalistische Selbstverwertung des Werts alle überkommenen Werte entwertet, ist Kunstgenuss der letzte Bürgertrost. Darum erscholl nach dem berühmten Kartoffelbreiwurf so lautes Wutgebrüll. Dass in Ostafrika klimabedingt massenhaft Kinder verhungern, ist als Lauf der Dinge hinzunehmen. Aber bei der Kunst hört der Spaß auf.
Bewegung und Andacht, Fleiß und Genuss, Arbeit und Kunst, das sind die beiden Pole bürgerlicher Identität. Es ist eine säkularisierte Form des benediktinischen »Ora et labora«. Deshalb kommt auch kaum ein Artikel über die Museumsaktionen ohne den Hinweis aus, die Reparatur dieses oder jenes goldenen Bilderrahmens koste x-tausend Euro, und überhaupt seien die Bilder so wertvoll! Die mediale Erregung weiß gar nicht, worauf sie sich zuerst stürzen soll – die schönen Gemälde oder all das schöne Geld, das sie kosten.
All dies verrät einen Kunstbegriff, der tief im 19. Jahrhundert stecken geblieben ist. Dabei waren doch die Impressionisten – zu deren Verteidigern sich jetzt so viele aufschwingen, die bis vor vier Wochen einen Getreideschober nicht vom andern unterscheiden konnten – damals so etwas wie die Letzte Generation der akademischen Malerei! Weit entfernt davon zu trösten, erzeugten ihre ersten Bilder tief empfundene Empörung. Heute hängen sie verglast und ehrfurchtgebietend in einem klimatisierten Hochsicherheitstrakt namens Museum. Kartoffelbrei zu werfen, ist nicht die schlechteste Antwort darauf. Es ist eine Geste verzweifelter Liebe. Viele aus der Kunstwelt äußern sich so, hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand.
Die Letzte Generation betreibt praktische Ideologiekritik. Dass viele Medien dafür blind sind und bleiben wollen, verwundert nicht. Wer Mobilität und Kunst ins Visier nimmt, attackiert zwei tragende Säulen bürgerlicher Ideologie. Das Konstrukt, das diese Säulen stützen, ist Arbeit. Genauer: entfremdete Lohnarbeit. Automobile Bewegung in Städten ist meist Bewegung zur Arbeit. Wer arbeiten muss, den hält man nicht auf. Arbeit ist ein Zweck, der sich selbst heiligt. Darum unterscheiden sich zwar bei den Straßenblockaden die Kommentare, aber einer kommt immer: »Geht arbeiten, Schmarotzer!« Das rufen auch die, die offenbar nichts Besseres zu tun haben, als am Straßenrand herumzulungern. Wer keinen Job hat, tröstet sich schimpfend über das Prekäre des Daseins und partizipiert so an der herrschenden Arbeitsideologie.
In einer entlarvenden Gleichsetzung mahnte Grünen-Chef Nouripour nach der BER-Blockade, niemand dürfe Leben gefährden oder Menschen daran hindern, in den Urlaub zu fahren. Ja, Urlaub ist im Kapitalismus lebenswichtig. Er reproduziert die Arbeitskraft. Seine gebräunte Haut trägt der Tourist nach der Rückkehr wieder zu Markte. Viele Aktionen der Letzten Generation zielen – gewollt oder nicht – auf diesen blinden Fleck kapitalistischer Vergesellschaftung: Exploitation, die sich als Freiheit tarnt und die in Gestalt der planetaren Verwüstung nun ihre eigenen Grundlagen und zugleich die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Freiheit zu vernichten droht.
Auf der Inneren Kanalstraße in Köln löste uns schließlich die Feuerwehr vom Asphalt. Ich bedankte mich bei einem Feuerwehrmann und entschuldigte mich für die Umstände. Er legte mir seine kräftige Hand auf die Schulter und raunzte lässig: »Nicht nötig, Mann! Ich bin auf eurer Seite.«
Ich glaube, die meisten, die unseren Aufruf zeichnen, möchten dasselbe sagen. Wir haben dabei als Kunstschaffende ein handfestes Interesse, denn der Klimakollaps bedroht die gesellschaftlichen Freiräume, die für künstlerische Arbeit nötig sind. Die Letzte Generation stellt sich nicht zuletzt schützend vor uns. Solidarität ist das Mindeste, das wir dafür schulden.
Lothar Kittstein ist einer der Initiatoren der Solidaritätskampagne »Klimaschutz ist kein Verbrechen«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.