Peter Handkes »Zwiegespräch«: Inneres Volksgemurmel

Horror des Beiläufigen: Am Burgtheater Wien wurde Peter Handkes »Zwiegespräch« uraufgeführt, nun ist der Abend beim Theatertreffen zu sehen

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.
Forscher Zugriff der Regisseurin Rieke Süßkow: Uraufführung von Peter Handkes "Zwiegespräch"
Forscher Zugriff der Regisseurin Rieke Süßkow: Uraufführung von Peter Handkes "Zwiegespräch"

Den verstorbenen Schauspielern Otto Sander und Bruno Ganz ist der Text gewidmet. Sie spielten die zwei Engel in Wim Wenders’ Film »Der Himmel über Berlin«, an dessen Drehbuch Peter Handke mitschrieb. Sander und Ganz protokollieren darin die Schönheiten und Absonderlichkeiten der menschlichen Welt, an der sie selbst nicht teilhaben können. Bis einer von ihnen sich für den Übergang entscheidet, Mensch wird und erstmals beides erfährt: Schmerz ebenso wie Liebe. Hollywood hat aus dieser Geschichte einst ein schwülstiges Remake gemacht. »Zwiegespräch«, Handkes neuester Theatertext, eignete sich dagegen auch bei erheblicher Beugung wohl nicht für leichte Konsumierbarkeit.

»Die Wahrheit ist wohl, daß ich mich, und das seit je, für Tragödien nicht zuständig gefühlt habe«, heißt es in diesem schwierigen, flirrenden Text, der sicher keine Tragödie sein will, in dessen Verlauf sich innere Stimmen ins Wort fallen, zwei Alter Egos des Dichters Erinnerungen wälzen und Wörter auf ihre Tragfähigkeit überprüfen, darauf, ob sie nicht zu leicht sind, um zu halten, was sie versprechen. Handkes Großvater spielt eine Rolle, einige Szenen seines Lebens werden erzählt – der Großvater im Krieg oder genauer: als Figur in einer Anekdote vom Krieg; der Großvater, wie er Karten spielen will, doch seine Spielpartner ihm weggestorben sind; überhaupt sein »Großvaterspiel«, das beim Enkel nicht ganz verfängt; dann wie er auf dem Totenbett liegt und mit dem Finger Unlesbares an die Wand schreibt. Zugleich geht es genereller um das »Großvatertum«, zumal um das österreichische, was eine der Stimmen in Überraschung versetzt: »Laß hören, Freund. Was du vor dich hin stammelst, verspricht Politisches.«

Politisches? Das wäre bei Handke in der Tat brisant, nimmt der Nobelpreisträger doch prinzipiell von derlei Einlassungen Abstand oder bezeichnet sie selbst im Nachhinein als dichterische Interventionen. Man erinnere sich an seine Parteinahme für Serbien, an seine Grabrede für Slobodan Milošević. Hier aber nun äußert er sich beinahe offensiv; in diesem Zwiegespräch geht es um ein Land, das eine Zeit lang »Ostmark« hieß, um die Großväter, die damals »durch nichts zu beirrende Herolde und, meinetwegen auch unbeabsichtigt, Propagandisten« des Dritten Reichs waren, diese Schuld aber später verschwiegen und stattdessen eine verlogene Heldengeschichte weitererzählten: »Und ich war mir zusätzlich gewiß, daß die Generation jener Enkel die Geschichte vom Idealismus, vom Heldentum und, vor allem, von der Unschuld jener Großväter an die eigenen Enkel vererbt hat und, dabei sich selber in Unschuld wiegend, auch heute noch weitergibt.«

Handke als später Rebell gegen den »Muff von 1000 Jahren« also? Nicht ganz, denn die Sprecher verhandeln vielmehr das Fehlen einer solchen Abrechnung im Werk des Schriftstellers. »Ja, vielleicht habe ich mir solch ein dramatisches Eingreifen nicht zugetraut, oder war bloß zu faul, das Gespinst durchzuleben.« Der Text verhält sich durchaus zur Schuld und ihrem Fortleben; der Blick auf das Großvatertum ist jedoch keiner, der immer schon alles sieht, der in der Bezichtigung seinen Schlusspunkt findet. Vielmehr lenkt Handke den Blick auf die Spuren für die Gewalt in den eigenen Erinnerungen.

Warum war der Großvater, eigentlich eine positiv besetzte Figur, so gewalttätig zu Tieren? Warum mauerte er einen Schwarm Hornissen ein, spießte eine Schlange auf und ließ sie elendig verenden? Und warum, vielleicht die noch wichtigere Frage, lassen diese Erinnerungen den inzwischen selbst hochbetagten Enkel nicht los? Somnambul führen Handkes Sprecher durch Erlebtes, womöglich Erträumtes, meiden die Schilderung des großen Schreckens und finden den Horror im Beiläufigen. Als Kind sei einer fasziniert gewesen vom Dekor eines Theaterstücks, ein Haus war da zu sehen; er habe erwartet, dass jemand herauskomme, aber niemand trat durch die Tür.

Dieses Haus, diese Hütte, geistert als Motiv durch den Text. Manches deutet darauf hin, dass der Junge eine KZ-Baracke sah, ohne es zu wissen. Und nun, da er es weiß, trifft er immer wieder auf solche Hütten, erst gestern stand er vor einer, und endlich, »nach einem Rumoren im Innern, das in meinen Ohren mehr und mehr angeschwollen ist zu einem Volksgemurmel«, stürzte ein einzelner Mann ins Freie »mit buchstäblich gesträubten Haaren, die Augen weit aufgerissen und blutunterlaufen«. Ein berühmtes Selbstporträt von Felix Nussbaum kommt einem da in den Sinn, ohne dass Handkes Text damit schon letztendlich auf ein Bild oder einen Begriff gebracht wäre. Man darf ihn vielmehr als tastenden Nachvollzug verstehen, wie Vergangenheit in Sprache, Motiven und Bewusstsein von einer Generation in die andere übergeht.

Wie mit einem solch feinen, schillernden Text umgehen? Rieke Süßkow, die Regisseurin der Uraufführung am Wiener Akademietheater, nähert sich ihm selbstbewusst, beinahe forsch. Lang dauert es, bis überhaupt ein Wort fällt. Bis dahin rattert minutenlang ein Paravent über die in grelles Gelb getauchte Bühne, zackiges Pflegepersonal rückt Bürostühle in die Eckwände, Senioren sitzen darauf. Die Jungen kontrollieren den ordnungsgemäßen Verlauf ihrer Katzenwäsche, zupfen an ihren Kleidern herum.

Noch bevor der Begriff »Großvatertum« fällt, wird ein Generationenkonflikt ausgetragen, die Alten sind hier aus dem Leben verschwunden, können nicht mehr handeln und nur noch ihre Erinnerungen veräußern. Die Bühne teilt sich bald, der Paravent rückt die Alten immer weiter an den Rand, während das junge Pflegepersonal auf der anderen Seite der Trennwände die Gegenwart in Anspruch nimmt. Elisa Plüss und Maresi Riegner fallen den drei Schutzbefohlenen – Hans Dieter Knebel, Branko Samarovski und Martin Schwab – immer öfter ins Wort, versehen ihre Erinnerungen mit höhnischen Fragezeichen. Kein versöhnliches Großvatertum der Enkel ist hier zu erkennen. Sie halten sich nicht unbefleckt dadurch, an das Fehlen von Schuld in ihrer Familie zu glauben, sondern begnügen sich mit der Gewissheit, in der reinen Gegenwart zu leben.

Der Paravent rückt die Alten immer weiter ins Abseits. In regelmäßigen Abständen geht einer von ihnen über den Jordan. Sie müssen »Reise nach Jerusalem« spielen, die Jungen singen dazu einen alten Schlager. Der Verlierer muss seine Taschen ausleeren, wird durch eine Tür gestoßen und taucht auf der anderen Seite als Urne wieder auf, die rasch in einen Schrank eingeordnet wird. Süßkow reichert die Anspielungen an das »Dritte Reich« und den Holocaust also mit ihrer Inszenierung zusätzlich an, erdrückt den Text jedoch nicht in ihrer Lesart. Es geht hier nicht allein um eine historische Schuld oder ihre Verdrängung, sondern abstrakter auch um den Umgang einer Generation mit den Gedanken, den Erfahrungen, dem Erlebten einer früheren. Mitleid hat man eher mit den Alten. Die Jungen haben die Macht über sie, ihnen obliegt die Deutungshoheit.

Am Schluss der knapp zweistündigen Inszenierung bahren sie Martin Schwab, als letzten Überlebenden, auf einer Tafel auf, schmücken ihn mit Blumen und Obst, drücken ihm einen Apfel in den Mund, ertränken ihn im Dekor. Doch er will nicht aufhören zu sprechen, Elisa Plüss stimmt ihm gönnerhaft zu und schüttelt doch verständnislos den Kopf. Den Jungen gehört die Gegenwart, und dieser Besitzstand begründet ein Gewaltverhältnis. Ein Schrecken greift um sich, der Schrecken der Alten, deren Sprache niemanden mehr erreicht, deren Sätze niemand haben will, die lediglich auf Zugeständnisse hoffen können, die wie ein eingemauerter Hornissenschwarm noch eine Weile lärmen dürfen.

Vorstellungen im Rahmen des Theatertreffens: 27. und 28. Mai
www.berlinerfestspiele.de

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