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»Man muss sich ein Herz fassen«
War die WM in Katar ein Gleichnis? Ein Gespräch mit dem Dichter Albert Ostermaier über Flickwerk, Utopie und die Stühle, auf denen wir kleben
Albert Ostermaier, was ist Katar? Ein Gleichnis? Für Pragmatismus, weil Profit winkt?
Albert Ostermaier, Jahrgang 1967, lebt in München; er gehört zu den prägenden Lyrikern und Dramatikern in Deutschland. Seine Stücke werden in zahlreichen Ländern gespielt. Er war Hausautor am Nationaltheater Mannheim, am Bayerischen Staatsschauspiel, am Wiener Burgtheater. Und er ist Torwart der deutschen Autoren-Nationalmannschaft.
Für einen Widerstand dann, wenn es längst zu spät ist. Für den Januskopf des Menschen, der aufschreien, aber zugleich sein Leben genießen und nicht auf Freude verzichten will.
Deutschland war schnell raus aus der WM. Fiebern Sie noch mit?
Deutschland ist raus, ja, aber war Deutschland je drinnen? Oder doch nur eine Fiebererscheinung, eine Fata Morgana in der Wüste, ein paar Spielzüge lang, ein paar Zweikämpfe stark? War nicht das Team von Anfang an auf Sand gebaut? Aber Dünen können sich besser verschieben … Unsere Mannschaft war eher was für Schüttelfrost denn für Fieber, sie ließ einen immer kalt. Gefiebert habe ich nur für Marokko.
Beschreiben Sie bitte, wieso in Katar eine Welt – ausgerechnet durch eine anberaumte Meisterschaft – zusammenbricht. Welche Welt ist es?
Bricht da eine Welt zusammen? Welche? Wie viel Welt steckte denn zum Beispiel in dieser deutschen Mannschaft? Ganz zu schweigen von Weltklasse. Sie agierten ja so, als wären sie nicht von dieser Welt. Da liefen maximal Welten nebeneinanderher. Wir haben uns in leere Flaschen einen Geist gelogen, der längst verflogen war. Auch Flick konnte nur Flickwerk. Wir hätten einen van Gaal gebraucht, wie Bayern damals. Unser Team war wie ein Wackelkontakt, da war nie Licht über einem ganzen Spiel. Und das nicht erst in Katar. Und man denkt über Deutschland nach und meint nicht nur die Krise von Katar.
Wenn Sie Fußball denken, Fußball fühlen – wer erzählt Ihnen noch immer die Dramen, deretwegen man diesen Sport liebt?
Ich sehe Fußball immer als Dramatiker, sehe die möglichen Dramen, die Fallhöhe, sehe ein Spiel so, wie ich es schreiben würde. Und meistens entwickelt es sich genau so, dass es die Geschichten, die es in sich als Potenz trägt, entfaltet, ausspielt. Als wäre alles von Shakespeare und nicht von Infantino inszeniert. Bei einem Elfmeterschießen liege ich fast immer richtig. Aber das sehe ich eben als Torwart. Ein Torwart sieht Dinge, die andere nicht sehen, deshalb wirft er sich auch oft in die falsche Ecke.
»der ball kommt nie aus der / richtung aus der man ihn erwartet«, schreiben Sie über Albert Camus, den man sich als »glücklichen torwart« vorstellen soll, ähnlich dem Sisyphos. Wie ist Ihre Gemütsverfassung – dem Unerwarteten, dem Chaotischen, dem Übermächtigen, also den derzeitigen großen Krisen gegenüber? Auch außerhalb der Spielfelder?
Krisen kennen leider keine Regeln. Der Torwart fühlt sich in einem Western, da ist immer High Noon. Der Torwart muss schneller als sein Schatten sein, antizipieren, riskieren, den möglichen Schmerz ignorieren. Er muss der Gefahr ins Gesicht schauen und ihr seine kalte Schulter zeigen im Flug. Wenn einer auf das Tor zukommt, ist das ja schon eine Krise, weil da zuvor etwas schieflief.
Der Torwart kann die Krise nicht vermeiden?
Sondern nur das Beste daraus machen, das Schlimmste verhindern. Das ist doch die Frage, so weit sind wir generell gesunken: Wären Kahn oder Breitner die besseren Kanzler?
Haben Sie Lebensangst?
Vielleicht ist es unvernünftig, aber ich fühle keine Angst. Es ist wie beim Strafstoß, auch wenn die Chancen ungleich verteilt sind. Meine Gemütsverfassung ist so, dass ich als Torwart gerade am liebsten ein Tor schießen würde.
Wie sehr gelingt Ihnen das (noch), was im Camus-Gedicht das Existenzielle ist: »sich nicht lang zu / quälen und die kugel aus dem netz zu / holen«?
Das Netz der Welt ist längst durchlöchert von Kugeln. Wo anfangen? Aber auch wenn das Spiel verloren ist, kann man ihm in Momenten noch abgewinnen, was es einst ausmachte.
Ihre Poesie ist auf Aufnahmesituationen geeicht. In den Wüsten der Zweisamkeit, in den Eishöhlen der Gesellschaft, im Labyrinth der Selbsterfahrung. Wie geht das zusammen: die Außenseiterschaft des Poeten und die Beteiligungssehnsucht des wachen Bürgers?
Meine Sätze leben von Gegensätzen. Der stürmende Torwart ist meine Utopie wie der politische Poet.
Der politische Poet?
Ja. Vom Außen über die Flügel in die Strafräume.
Junge Leute kleben sich vor Verzweiflung auf der Straße an, Weltfußballer aber lassen sich die Armbinde des Protestes von der Fifa verbieten: Wie steht es gegenwärtig um den zivilen Ungehorsam?
Der Sport gehorcht dem Markt, nicht der Zivilgesellschaft. Sein Gehorsam ist sogar vorauseilend. Ein Spieler verkauft sich und wird verkauft. Und wir kaufen ihm das ab, was wir hören wollen.
Müssen Sportler mehr riskieren als wir? Mehr Mut haben, mehr Konsequenz?
Wer sich auf die Autobahn klebt, kann es fordern. Dass kein einziger Spieler bislang wirklich etwas gewagt hat, das sagt nicht nur etwas über Sportler, sondern auch über uns. Aber es fragt auch kein Guardiola wegen des Genozids im Jemen und der Verantwortung der Vereinigten Arabischen Emirate für den hohen bitteren Preis, den Millionen andere zahlen.
Glauben und vertrauen Sie noch einer politischen Bewegung?
Ich glaube an Politik, und ich glaube an Bewegung. Ich glaube daran, dass es Grundvoraussetzung von Politik ist, sich zu bewegen, und zwar aufeinander zu und nach vorne statt zurück. Deutschland ist nur noch statisch, da bewegt sich nichts. Da müssten sich ja die Stühle bewegen, auf denen wir lieber sitzen bleiben.
Und festkleben.
Schlimmer als das Festkleben auf Straßen.
Ich bin für Tierschutz, esse aber Steaks. Ich bin fürs Tempolimit, muss aber von Zeit zu Zeit geblitzt werden. Ich verabscheue Kommerz, schaue aber gern den kickenden Millionären zu. Ist das nicht Gottfried Benn pur, der notierte, was von allen Träumen bleibt: »die Leere und das gezeichnete Ich«? Sehen Sie so auch Ihr eigenes Leben?
Wenn mir so eine Zeile wie die von Benn glückte, bliebe ja viel. Muss man die Frage nicht umdrehen: Ist denn nicht die Sehnsucht nach Widerspruchslosigkeit eine wahrhaft unmenschliche, eine potenziell fanatische Sehnsucht? Man muss die Gegensätze aushalten, sie sind die Voraussetzung für jeden Satz nach vorne.
Hat dieser elende Infantino auch etwas Schillerndes, das den Dramatiker sprachlos macht? Oder gar fasziniert?
Er ist wie Richard III., der als Mörder die Witwe vor dem Leichnam ihres Mannes verführt. Er ist – wie ein Sinnbild – das Monster, das wir immer wieder neu erschaffen. In allen Strukturen, in denen Herrschaft keimen kann. Wir dachten, bei der Fifa sei Blatter schon das Schlimmste. Infantino macht mich nicht sprachlos – sprachlos macht mich, dass wir uns die Hand vor den Mund halten, wo wir doch auf- und anschreien müssten.
In einem Gedicht, die Ukraine betreffend, schreiben Sie vom Feind und seinen Waffen, »wir sagen er richtet sie / auch gegen unsere Freiheit / die wir uns nehmen dass ihr / für sie sterben könnt mit ihr / was kann ich tun«. Dreimal verfluchte Lage allüberall! Lieber Albert Ostermaier, den Poeten, den Waffenlosen gefragt: Was kann man denn noch tun?!
Was kann man tun? Besser nichts als gar nichts? Bleibt man als Torwart beim Elfmeter einfach in der Mitte stehen? Nichts verlangt mehr Mut und kann am Ende peinlicher sein. Oder entscheidet man sich für eine Seite und springt; und während man fliegt, sieht man, wohin es der Ball tut? Was kann man tun? Das, was man tun kann und tun muss.
Was?!
Wenn man ein Herz hat, wird es einem sagen, was. Man muss sich ein Herz fassen wie einen Ball.
*
Albert Ostermaier:
amnesia
einer flitzt über den
rasen und ist noch
nicht einmal nackt
doch wir sind es am
nacken gepackt da
wir vergaßen dass
diese wm zum
vergessen ist bzw.
gemacht dafür wir
waschen unsere
blauen augen in
unschuld bis uns die
tränen kommen vor
rührung über eine ball
berührung unsere moral
sitzt ausgewechselt
auf der bank seitdem
läuft es besser
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