• Kultur
  • Brigitte Reimanns »Die Denunziantin«

Erziehung der Gefühle

»Die Denunziantin«, der erste Roman von Brigitte Reimann, ist erstmals veröffentlicht worden

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Da war sie schon arriviert: Brigitte Reimann 1966 auf einer Lesung in Berlin, rechts neben ihr Lektor Walter Lewerenz.
Da war sie schon arriviert: Brigitte Reimann 1966 auf einer Lesung in Berlin, rechts neben ihr Lektor Walter Lewerenz.

Sie war eine Ikone der DDR-Literatur: Wenn jetzt ein bisher unveröffentlichtes Erstlingswerk von Brigitte Reimann erscheint, könnte man von einer Sensation sprechen. Freilich hat die Herausgeberin Kristina Stella das Manuskript nicht auf irgendeinem Dachboden ausgegraben. Es befand sich wohlverwahrt im Brigitte-Reimann-Archiv des Literaturzentrums Neubrandenburg, konnte gelesen werden und ist in mindestens einer Dissertation aufgetaucht. Die Frage, ob die Autorin selbst mit der Veröffentlichung ihres Frühwerks einverstanden gewesen wäre, erübrigt sich. Anders als 1952, als sie mit 19 Jahren die Arbeit daran begann, liest man den Text heute im Wissen um ihr Gesamtwerk. Und nicht nur das: In diesem Erstlingswerk steckt etwas, das beim Lesen tief bewegt, gerade weil es so irritierend ist.

Eva Hennig, eine 17-jährige Oberschülerin, zeigt einen Lehrer beim Direktor an. Schon lange hatte sie in ihm eine Distanz gespürt zu den eigenen hochfliegenden sozialistischen Idealen. Umso mehr ärgerte sie, wie ihn die Klasse bewunderte, wie unangreifbar er war durch seine freundliche Eloquenz. Aber nun hatte er sich verraten, als er ein Stück kritisierte, das sie mit ihrer Laienspielgruppe vor Kindern getöteter Antifaschisten aufführen will: »Die Eysenhardts« von Peter Nell. Allerdings ging es ihm nicht darum, dass es diese Waisen zusätzlich traumatisieren würde, auf der Bühne an die brutale Verhaftung ihrer Väter erinnert zu werden (mehrere begannen tatsächlich zu weinen). Hingegen äußerte Studienrat Sehnig grundsätzliche Zweifel: »Was kann euch schon die Erinnerung an den antifaschistischen Kampf in der Nazizeit geben? Sie muss euch doch mehr entmutigen als beflügeln? … Was sollte die Auflehnung einiger weniger gegen ein ganzes System?« Die »Heere der Alliierten« seien es doch gewesen, die Hitler den Todesstoß versetzten, »nicht die unnützen Opfer der Antifaschisten«, sagte er und brachte Eva zur Weißglut. Denn ihr Vater war von den Nazis umgebracht worden. »Was haben Sie denn während der Nazizeit getan?«, schrie sie ihm entgegen. »Natürlich, Sie haben ›abgewartet‹ …«

Allein schon dieser Wortwechsel – die Autorin kann ihn nicht aus der Luft gegriffen haben – macht den Roman bis heute aktuell. Es geht um deutsche Schuld, aber auch, im konkreten Fall, um politische Deutungsmacht. Rigorose Abrechnung mit den »Mitläufern« der Nazi-Zeit? Das hätte, auch in der DDR, allzu viele getroffen. Konsequenter als im Westen wurden die Täter verfolgt und bestraft. Die vielen »Sehnigs« aber wollte man eher auf die eigene Seite ziehen. Insofern schoss die junge Reimann in bester Absicht über das allgemeine politische Ziel hinaus, was sie unbewusst womöglich auch spürte. Eva galt in ihrer Klasse als »150-Prozentige«. Ihren Führungsanspruch beschrieb die Autorin wohl aus eigner Erfahrung ebenso wie die Konflikte, die aus ihrer Selbstbezogenheit entstehen. Und sie treibt diese Konflikte auf die Spitze, wenn Eva sich an den Direktor wendet, um die Entlassung des allseits beliebten Lehrers zu fordern.

»Denunziantin« – allein schon, dass Brigitte Reimann dieses Schimpfwort zum Titel ihres Romans wählte, macht ihn lesenswert. Vielleicht abgesehen von dem allzu geradlinigen Schluss, dass die Aufführung des Laienspiels ein Erfolg wird, Eva langsam aus der Rolle der Außenseiterin heraustreten kann und Studienrat Sehnig schließlich die Segel streicht, spürt man die ganze Zeit, wie die Autorin mit sich einen inneren Kampf ausficht. So überaus wahrhaftig, lebendig sie uns den Oberschulalltag vor Augen treten lässt, vermutet man nicht umsonst autobiografische Anspielungen. Auch Brigitte Reimann leitete eine Laienspielgruppe in ihrer Klasse und hatte einen Freund namens Klaus. Allerdings war ihr Vater in der NSDAP gewesen, weil er meinte, als Verlagsmitarbeiter keine andere Wahl zu haben. Da steckt in der Gestalt der Eva Henning wohl auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, vor allem aber ein Versuch, sich selber gleichsam freizuschwimmen. Aber so, wie sie diese Eva zeichnet, so wahrhaftig in ihrem Wollen und in ihrer inneren Qual, wird daraus eine überaus interessante, schillernde Gestalt, in der man das Ringen der Autorin spürt. Denn was Brigitte Reimann uns hier vor Augen führt, ist eine beinahe schon masochistische Erziehung der Gefühle. »Nicht weich werden, zum Donnerwetter«, fordert sie von sich, als Klaus sie verlassen hat. »Sag mir, wo du stehst« – dieses Lied des »Oktoberklubs« kam mir beim Lesen in den Sinn und aus früher Kindheit die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern. »Humanitätsduselei« sagte mein Vater einmal. Was für ein schreckliches Wort! Die politische Forderung nach Prinzipienfestigkeit, Kompromisslosigkeit – wie oft stand sie im Widerspruch zu dem, was das Herz befahl. Wie Ideologie Menschen ins Dilemma bringt, darüber denkt man beim Lesen unwillkürlich auch auf das Heute bezogen nach.

Zunächst beim Aufbau Verlag, dann beim Mitteldeutschen reichte Brigitte Reimann ihr Manuskript ein. Kristina Stella, Verfasserin einer mehrbändigen Brigitte-Reimann-Biografie und Herausgeberin mehrerer Briefbände, schließt mit diesem Buch an ihre Forschungen an. In einem Anhang von 137 Seiten legt sie akribisch dar, wie die junge Schriftstellerin auf Wunsch von Lektoren immer wieder Veränderungen vornehmen, neue Fassungen schreiben musste und schließlich resignierte. Lag es daran, dass Eva Henning zu ungezähmt, stur und besserwisserisch geraten war, um dem Idealbild einer Heldin zu entsprechen? Oder zauderten die Lektoren, Studienrat Sehnig wegen seiner Bürgerlichkeit so vehement verurteilt zu sehen? Sie waren Brigitte Reimann an Alter und Erfahrung voraus und könnten auch gemeint haben, sie vor sich selbst zu schützen. Wie sie sich einer »Denunziantin« an die Seite stellte, hat ja tatsächlich etwas Fragwürdiges, das in der Autorin selbst weitergearbeitet haben muss. Sodass dieses frühe Werk, an dem sie sich so lange quälte, in ihr Spuren hinterließ: in ihrem inneren Ringen, das man in »Die Frau am Pranger« (1956) ebenso spürt wie in »Ankunft im Alltag« (1961) und in dem unvollendeten Roman »Franziska Linkerhand« (1974), in dem die ehrgeizige Architektin Franziska Linkerhand in Konflikt mit ökonomischen Vorgaben und ideologischen Verkrustungen gerät. Die »Denunziantin« hinter sich lassend, wurde Brigitte Reimann zu jener selbstbewussten, ruhelosen, leidenschaftlichen Frau und schöpferischen Autorin, die wir in ihr bewundern.

Brigitte Reimann: Die Denunziantin. Aisthesis Verlag, 376 S., br., 24 €

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