- Kultur
- Sexueller Übergriff
Princess Charming: Sexuelle Gewalt und Wahrheit
Jeja nervt: Über den Umgang mit Vorwürfen sexueller Gewalt
In der Auseinandersetzung um einen mutmaßlichen sexuellen Übergriff in der lesbischen Reality-Show »Princess Charming« äußerte der »Spiegel« Zweifel an den Vorwürfen. Die Teilnehmerin Jo hatte einer Mitbewerberin via Instagram einen sexuellen Übergriff vorgeworfen, den diese darauf in einem eigenen Video eingeräumt hat. Wiki, die Beschuldigte, hatte sich zuvor auf der Plattform als Feministin und Aufklärerin über sexuellen Konsens in Szene gesetzt. Doch RTL ließ das Videomaterial aus der fraglichen Nacht von einem Anwalt sichten und erkaufte sich mit einem »Wir wussten von nichts, sonst hätten wir ja gehandelt«-Statement Zeit.
Resultat der strafrechtlichen Bewertung: Das Bildmaterial spreche eindeutig für Einvernehmlichkeit, eine strafbare sexuelle Nötigung oder Belästigung sei nicht belegbar. Gut für RTL. Seine Feststellung steigert der Sender noch – aus »nicht belegbar« werden »nachweislich falsche Darstellungen«. Dabei war es in Jos Vorwürfen gar nicht um juristische Fragen gegangen, sondern um moralische.
Wiki habe sich, so die Darstellung, im großen Schlafsaal der Kandidat*innen ohne Unterhose zu Jo ins Bett gelegt, Körperkontakt gesucht und der Schlaftrunkenen dann von Gefühlen und Wünschen berichtet. Einen ersten Versuch, sie zu küssen, habe Jo verbal verneint. Dann sei Wiki auf Jo gestiegen, habe ihre Arme über dem Kopf festgehalten und abermals versucht, sie zu küssen. Jo habe sich nicht bewegt – dann endet die Darstellung.
Ob Jos Vorwürfe nachweislich falsch sind, wollte auch der »Spiegel« wissen und ließ sich das Video zeigen. Man sehe darin zwar »einiges von dem, was Jo beschrieben hat«. Doch was das ist, darüber bleiben die Journalist*innen auffallend still. Was ihrer Meinung nach aber den Schilderungen widerspricht, wird beschrieben. Etwa: »Im Video liegen Jo und Wiki eng beieinander, immer wieder berühren sie gegenseitig ihre Wangen, flüstern, umarmen sich, kuscheln.« Das klingt nach herrschender Sexualmoral wie Begehren und »Ja«, widerspricht aber nicht Jos Darstellung. Auch dass im Video keine Abwehrversuche zu sehen seien, wird geschildert – doch das Kriterium anwesender Abwehr entstammt Mythen über sexuelle Gewalt sowie einem längst überarbeiteten Sexualstrafrecht. Und: Das Festhalten der Hände sei »so nicht zu erkennen«. Denn: »Als Wiki auf ihr liegt, verschränken die beiden Kandidatinnen ihre Finger, streicheln über ihre Hände, blicken sich lange in die Augen. Schließlich schlafen sie ein.«
Doch warum geschieht nicht mehr, wenn doch alles so einvernehmlich war? Die Beschuldigte Wiki hat sich das Video vorführen lassen und ihr Geständnis zurückgenommen: »Dass für Jo etwas ungut war, war für mich weder verbal noch nonverbal wahrnehmbar«, sagt sie dem »Spiegel«. Wegen des feministischen Prinzips, Betroffenen zu glauben, habe ihr der differenzierte Blick gefehlt, zu sehen, dass es kein Übergriff war. Jo aber steht zu ihrer Darstellung. Es bleibe nun, so der »Spiegel«, die Frage, was mehr zähle: Bilder von Kameras oder Bilder in Köpfen. Anders ausgedrückt: Zwar habe objektiv kein Übergriff stattgefunden, aber das feministische Kriterium beanspruche eine solche Objektivität auch gar nicht.
Welch ein Missverständnis: Ist doch die Zurückweisung des Anspruchs, einen sexuellen Übergriff von außen objektivieren, unmittelbar als solchen erkennen zu können, keine Zurückweisung des Wahrheitskriteriums zugunsten bloßer Subjektivität. Sexuelle Gewalt findet objektiv statt. Im Umgang damit sind wir aber auf die Darstellung Betroffener angewiesen – und die ist subjektiv. Mit Blick auf Wiki fragen die Autor*innen: »Wo endet Politik? Und wo beginnt die Selbsterhaltung?« Doch spätestens, wenn auf NPD-kompatible Entgegensetzungen zurückgegriffen wird, sollte man sich nichts mehr von Wahrheit erzählen lassen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.