»Unsere Familien sind in Gefahr«

Für Ortskräfte aus Afghanistan ist noch immer intransparent, wer die Chance auf eine Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland erhält

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist mittlerweile ein Jahr her, dass Annalena Baerbock ein Versprechen abgab: »Wir werden die Definition der Kernfamilie von Menschen mit Aufnahmezusage offener angehen, um die Lebenswirklichkeit der Menschen stärker im Blick zu haben.« Das sagte die grüne Außenministerin am 23. Dezember vergangenen Jahres. Als Familie definieren deutsche Behörden normalerweise nur Eheleute und eigene, minderjährige Kinder. Diese Regelung führt dazu, dass ganze Familien zerrissen werden: Hat ein Mensch in Afghanistan für die Bundeswehr oder eine andere deutsche Organisation gearbeitet, darf er zwar Ehepartner*in und minderjährige Kinder mitnehmen. Seine Eltern und Kinder über 18 müsste er im Regelfall aber zurücklassen. Baerbocks Versprechen hat daran nichts Grundlegendes verändert.

Der reguläre Familiennachzug läuft genauso wie vorher. Und auch im sogenannten Ortskräfteverfahren wird nur die Kernfamilie der Person mit evakuiert. Für andere Familienmitglieder ist es möglich, ein humanitäres Visum zu beantragen. Einzig über das im Oktober angelaufene Bundesaufnahmeprogramm können auch Angehörige des weiteren Familienkreises angemeldet werden. Allerdings nur, wenn sie nachweisen können, dass sie durch die Tätigkeit ihres Familienmitglieds besonders gefährdet sind oder ein »besonderes« Abhängigkeitsverhältnis besteht. »Eine wirtschaftliche Abhängigkeit ist nicht ausreichend«, betont ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Nachfrage des »nd«. Es komme auf die »besonderen Umstände des Einzelfalles« an. Wie viele Menschen bislang über das Bundesaufnahmeprogramm mit einer erweiterten Familie vorgeschlagen wurden, teilte das Ministerium nicht mit. Insgesamt seien Vorschläge im mittleren dreistelligen Bereich eingegangen.

Amena Rahemy hat in Afghanistan Journalismus und BWL studiert und für die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) gearbeitet. Mit einer Gruppe von rund 100 weiblichen unverheirateten Ortskräften setzt sie sich für einen erweiterten Familienbegriff ein. Sie fordern ein spezielles Aufnahmeprogramm für ihre Angehörigen. »Unsere Familien sind in Gefahr«, sagt Rahemy im Gespräch mit dem »nd«. Die Taliban scheren sich nicht um den Grad der Verwandtschaft. Die 29-Jährige erzählt von wiederholten gezielten Durchsuchungen von Häusern der Familienangehörigen ihrer Gruppe. Eine Mitstreiterin sei in Afghanistan das Oberhaupt ihrer Familie gewesen, ihren 15-jährigen Bruder habe sie dennoch zurücklassen müssen. »Die Taliban haben ihn für drei Tage im Gefängnis verhört, um an das Passwort zum Computer seiner Schwester zu kommen«, erzählt sie. Zu anderen Familien sei der Kontakt nach den Durchsuchungen abgerissen.

Das Problem: Die deutschen Behörden wollen Beweise dafür, dass die Bedrohungslage der Angehörigen in einem direkten Zusammenhang mit der Arbeit ihrer Verwandten steht. »Das ist unmöglich. Die Taliban stellen unseren Angehörigen kein Dokument aus, dass sie durchsucht wurden, weil wir für eine internationale Organisation gearbeitet haben«, sagt Rahemy. Trotzdem habe es im Ortskräfteverfahren Menschen mit Aufnahmezusage gegeben, die sehr viele Familienangehörige nach Deutschland mitnehmen durften, erzählt Rahemy aus ihrem Bekanntenkreis: »Der Prozess ist undurchsichtig. Meist sind es Personen aus der Leitungsebene, die ihre erweiterte Familie mitnehmen dürfen.« Einige wenige aus ihrer Gruppe hätten Eltern und Geschwister mitnehmen dürfen, der Großteil sei alleine evakuiert worden.

In besonderer Gefahr in Afghanistan sind nicht nur ehemalige Ortskräfte und ihre Angehörigen, sondern auch Aktivist*innen, Journalist*innen und viele mehr. Die Lage von Frauen und Mädchen verschlechtert sich zusehends. Doch zum jetzigen Zeitpunkt konnten noch nicht einmal all jene das Land verlassen, die selbst für deutsche Organisationen gearbeitet haben.

Abu Toran und sein Bruder Ahmad leben seit sechs Jahren in Deutschland. Seit einem Jahr versuchen sie verzweifelt, ihre Familienmitglieder nach Deutschland zu holen. Die meisten von ihnen haben – wie Ahmad – jahrelang für die Bundeswehr gearbeitet. »Sie wurden einfach in Afghanistan im Stich gelassen«, sagt Abu Toran. Sein Bruder wurde als Ortskraft anerkannt, trotzdem wurde sein Asylantrag abgelehnt. Vor der Machtübernahme der Taliban sollte er abgeschoben werden. »Dabei war er mehr bei der Bundeswehr als bei seiner Familie«, sagt Toran. Für ihn selbst gilt nun ein Abschiebungsverbot. Seit Kurzem arbeitet er beim Flüchtlingsrat Berlin, darf aber nicht so viel verdienen, wie es nötig wäre, um einen Familiennachzug zu beantragen. Aus seiner Beratungspraxis kennt er zwar Fälle, in denen eine offenere Auslegung der Kernfamilie angewendet wurde, und er sagt, die Bewilligung durch deutsche Behörden in Deutschland habe sich beschleunigt. Doch Visa-Verfahren in den zuständigen Botschaften in Pakistan und Iran dauern derzeit bis zu eineinhalb Jahren. »Es liegt am Auswärtigen Amt und dem Innenministerium, hier mehr Kapazitäten zu schaffen«, sagt Toran.

Kein Land hob die Visapflicht für Afghan*innen nach der Machtübernahme der Taliban im August 2021 auf, das von Deutschland angekündigte Online-Visumverfahren wurde noch nicht umgesetzt. Und wer eine Aufnahmezusage hat, kann nicht unbedingt das Land verlassen. »Derzeit ist es unmöglich, afghanische Ausweisdokumente zu beschaffen, trotzdem weigern sich die Botschaften in einigen Fällen, graue Ausländerpässe für die Ausreise auszustellen«, sagt Toran. Die Lebenswirklichkeit der Menschen in Afghanistan – deutsche Behörden haben sie immer noch nicht im Blick.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.