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Eine fast vergessene Tat
Vor 30 Jahren wurde Şahin Çalışır von Neonazis in den Tod gehetzt
Der Ortskern von Solingen-Gräfrath ist schön. Ein schiefergetäfeltes Haus reiht sich an das andere, dazu grüne Türen und Fensterläden. Typische Bergische Bauweise, wie sie heute gar nicht mehr so oft zu finden ist. Gräfrath profitiert davon. Im Ortskern gibt es Hotels, Restaurants, nette kleine Läden. Das Kaffeehaus am Marktplatz ist am Dienstagnachmittag gut gefüllt. Menschen aus dem Ort sind genauso da wie eine große Ausflugsgruppe mit Fahrrädern. Wer am Fenster sitzt, schaut ein wenig skeptisch herunter auf den Marktplatz. Eine Handvoll Polizist*innen ist zu sehen und Menschen, die einen Pavillon und eine Lautsprecheranlage aufbauen. Eine Demo soll sein, das hat sich herumgesprochen. Wofür oder wogegen, das ist nicht zu den Gästen des Kaffeehauses durchgedrungen.
Dabei könnten die Gäste des Kaffeehauses einiges über einen unrühmlichen Teil der Gräfrather Stadtgeschichte erfahren, wenn sie sich für die Kundgebung auf dem Marktplatz interessieren würden. Mehrere antifaschistische und antirassistische Initiativen haben zum Gedenken an Şahin Çalışır aufgerufen. Vor 30 Jahren, am 27. Dezember 1992, war Çalışır auf der Autobahn 52 bei Meerbusch ums Leben gekommen. Er war an dem Abend mit Freunden unterwegs, der Duisburger war in Düsseldorf feiern gewesen. Auf dem Rückweg wurde ihr Auto von einem mit drei Männern besetzten Golf bedrängt, eindeutige bedrohliche Gesten wurden gezeigt. Der Golf touchiert den Wagen von Şahin und seinen Freunden, sie geraten ins Schleudern, schlagen in die Leitplanke ein. Aus Angst vor den Männern im Golf fliehen sie über die Autobahn. Dabei wird Şahin Çalışır, der gerade einmal 20 Jahre alt ist, von einem Auto erfasst und stirbt.
Im Oktober 1993 wird der Fahrer des Golfs, Klaus Evertz, vom Amtsgericht Neuss wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer 15-monatigen Haftstrafe verurteilt. Ein rassistisches Motiv für die Tat konnte das Gericht nicht erkennen. Şahin Çalışırs Onkel Orhan schilderte den Prozess so: »Der Staatsanwalt grinste während des ganzen zweiten Verhandlungstages, als ob es hier um einen Schulstreich von pubertierenden Jugendlichen ginge und nicht um den Tod eines 20-Jährigen, der aus rassistischen Gründen umgebracht wurde.« Das Amtsgericht in Neuss bezeichnete er als »zweiten Tatort«.
Die Tat, bei der Şahin Çalışır starb, ist schlimm genug. Noch schlimmer macht sie allerdings der Kontext, auf den die Demonstrant*innen am Dienstag in Solingen-Gräfrath aufmerksam gemacht haben. In einem Haus unweit des Marktplatzes befand sich von 1987 bis 1993 die Kampfsportschule »Hak Pao«. Dort trainierte der Beifahrer des Golfs, der Şahin Çalışır in den Tod trieb. Und dort trainierten auch drei der vier Täter des Brandanschlags vom 29. Mai 1993, bei dem fünf türkischstämmige Mädchen und Frauen starben. Betreiber der Kampfsportschule war Bernd Schmitt, ein bezahlter Spitzel des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes.
In der Kampfsportschule des V-Manns wurden Neonazis für den Straßenkampf ausgebildet. Die militante Neonazipartei »Nationalistische Front« ließ hier ihre Kader trainieren, die »Nationale Einsatzkommandos« bilden sollten. Andere extrem rechte Gruppierungen wie die »Deutsche Liga für Volk und Heimat« oder die »Republikaner« griffen auf Schmitt und seine Schüler als Ordnertruppe zurück. Enttarnt wurde der Spitzel im Prozess um den Solinger Brandanschlag. Nordrhein-Westfalens damaliger Innenminister Herbert Schnoor bedauerte im Nachgang, dass ein »nachrichtenehrlicher« Zuträger nicht mehr für den Inlandsgeheimdienst aktiv sein konnte. Zur Radikalisierung der Täter habe Schmitt nicht beigetragen.
Das sehen die Demonstrant*innen in Gräfrath ganz anders. Sie fragen, ob konsequente Ermittlungen nach der Tat an Şahin Çalışır den Brandanschlag ein halbes Jahr später hätten verhindern können. Ihre Vermutung, die Hintergründe wurden nicht ausgeleuchtet, nicht gründlich ermittelt, um die Operation des Verfassungsschutzes nicht zu gefährden. Dietmar Gaida vom Solinger Appell forderte am Dienstag, dass die Akten rund um die Kampsportschule endlich offengelegt werden müssten. Auch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss sieht er als Möglichkeit. 30 Jahre nach den Taten müsse es endlich Aufklärung geben. Eine andere Forderung, die bei der Kundgebung laut wurde: Ein öffentliches Zeichen in Gräfrath, das an das Treiben bei »Hak Pao« erinnert. Aber das würde möglicherweise die bergische Idylle stören.
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