Die Kirche als Superspreader

Wie der Tod dank Glaube und Aberglaube während der Spanischen Grippe 1918 im Städtchen Zamora eine reiche Ernte einfuhr

Die Stadt muss ausgesehen haben, als stehe sie in Flammen», schreibt der spanische Historiker Javier García-Faria del Corral in seinem Buch über die Grippeepidemie 1918 im nordwestspanischen Zamora. Gemäß einem alten Reinigungsritual wird bei den vielen Beerdigungszügen Schießpulver verstreut und angezündet. Auf dem Höhepunkt der Welle sterben 200 Menschen an nur einem Tag – da kein Holz für die Särge mehr da ist, werden die aufgedunsenen, schwarz verfärbten Leichen, nur in dünnes Tuch gewickelt, durch die engen Gassen des Städtchens in Kastilien getragen.

Es ist der Oktober 1918. Die Spanische Grippe grassiert in Zamora. Auch hier war ein Militärlager der Ausgangspunkt. Zwar verhängen die lokalen Behörden eine Quarantäne, aber die Rekruten halten sich nur teilweise daran. Und so erreicht das Virus bald auch die Bewohner. In der Kleinstadt, die im 12. und 13. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebt hatte, wovon die romanische Kathedrale San Salvador sichtbares Zeugnis ist, gibt die katholische Kirche den Ton an. Ihr Hauptvertreter in Zamora ist Bischof Antonio Álvaro y Ballano, ein studierter und kultiviert auftretender Priester, der eine steile Karriere in der Kirche hingelegt hat. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse akzeptiert er lediglich als Metaphern für die Anziehung oder Abstoßung des Menschen zu Gott.

Aberglaube-Serie

Mit Silvester endet die Zeit zwischen den Jahren, es ist die Zeit der Wunder und des Aberglaubens. Da schlechte Zeiten Aberglauben nähren und die Zeiten vorerst wohl nicht besser werden, werfen wir in unserer Silvesterausgabe einen Blick auf den boomenden Markt für Esoterik und Heilkristalle, untersuchen die Verbindung von Aberglauben zu rechtem Gedankengut und lassen Theodor W. Adorno den Kapitalismus aus Horoskopen erklären.

Alle Texte unter: dasnd.de/aberglaube.

Als die ersten Grippefälle auftreten, untersagen die lokalen Behörden große Menschenansammlungen und raten den Bürgern eindringlich, Kontakt zu Kranken zu meiden. Álvaro y Ballano hat andere Vorstellungen: Nach dem Tod der Ordensschwester Dositea Andrés, die aufopferungsvoll kranke Soldaten gepflegt hatte, hält der Bischof eine große Messe zu ihren Ehren ab. Viele Menschen kommen, auch der Bürgermeister. Dicht an dicht warten die Teilnehmer, die heilige Kommunion in Empfang zu nehmen und die Reliquien des heiligen Rochus zu küssen. Im Anschluss beginnt zudem eine Novene – Abendgebete in der Kirche an neun aufeinander folgenden Tagen, auch Beerdigungen werden weiter abgehalten. Für den Bischof ist das unbedingt nötig, denn die Grippe ist, wie er predigt, «unseren Sünden und unserem Undank geschuldet, für die uns nun der rächende Arm der ewigen Gerechtigkeit heimsucht».

Der Bischof, den viele für den neuen Atilano halten, der im 10. Jahrhundert ins Heilige Land gepilgert war, um sich von seinen Sünden reinzuwaschen und die Stadt von der Pest zu befreien, hat leichtes Spiel. Viren waren 1918 noch nicht entdeckt, der genaue Übertragungsweg der Grippe lag im Dunkeln, der Sinn staatlicher Maßnahmen war kaum ersichtlich. Warnungen aus dem Ausland gab es kaum, da in den dortigen Medien wegen des Schlachtgetöses des Ersten Weltkrieges und der Militärzensur über die tödliche Epidemie kaum berichtet wurde. Dabei breitet sich das Virus A/H1N1 rasend schnell aus, rafft innerhalb weniger Tage auch zuvor gesunde Menschen dahin. Am schlimmsten betroffen sind die 20- bis 40-Jährigen. Die Spanische Grippe, die nach jetzigem Erkenntnisstand ihren Ursprung entweder in einem Militärlager in den USA oder einem in Frankreich hatte oder aus China stammte, wurde zur bis heute verheerendsten Pandemie. In den drei großen Wellen der Jahre 1918/19 infizierte sich jeder dritte Erdenbewohner, aktuelle Schätzungen der Todeszahlen reichen von 50 bis 100 Millionen. Am schlimmsten betroffen waren die Kolonien – Indien, afrikanische Länder, einige Südseestaaten. Wohl auch deshalb begann die intensive Erforschung durch Historiker erst in den vergangenen Jahren.

Von alledem wusste man in der engen Welt Zamoras 1918 natürlich nichts. Historiker gehen davon aus, dass die religiöse Verblendung ein wichtiger Grund dafür war, dass die Kleinstadt zu dem spanischen Hotspot wurde: Die Influenza-Sterblichkeit war hier zehnmal so hoch wie in anderen Städten, fast sechs Prozent der Bevölkerung starben. Aberglauben kann aber auch durch solche Fakten nicht widerlegt werden. Als im Herbst 1918 immer mehr Menschen sterben und sich zunehmend Panik breit macht, geht der Bischof nicht etwa in sich, sondern geißelt die Unfähigkeit der Wissenschaft. Helfen soll eine große Prozession, zu der Menschen aus der gesamten Provinz nach Zamora strömen. Und als die tödliche Welle Mitte November endlich abebbt, vermutlich, da die Bevölkerung weitgehend durchseucht war, hat der Bischof eine andere Erklärung: Durch rege Teilnahme an den kirchlichen Veranstaltungen sei «Gottes rechtmäßiger Zorn besänftigt» worden.

Spanische Grippe – Die Kirche als Superspreader

Álvaro y Ballano wird auch nach der verheerenden Gripewelle von seiner Gemeinde verehrt, erhält gar einen Wohltätigkeitsorden. Bis zu einem Tod im Alter von 51 Jahren bleibt er Bischof von Zamora. Erst viel später in einem Artikel anlässlich des 100. Jahrestags der Spanischen Grippe warf die Zeitung «El Pais» ihm süffisant hinterher: «Trotz seines Glaubens belohnte ihn der Herr nicht mit einem langen Leben.»

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -