• Berlin
  • Silvesterkrawalle Neukölln

Böllern gegen den Staat

Ein Besuch in der Sanderstraße in Neukölln, wo zu Silvester die Barrikaden brannten

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 5 Min.
Wut in all ihren Farben: Polizisten werden mit Böllern und Raketen am Kottbusser Damm Ecke Sanderstraße beworfen.
Wut in all ihren Farben: Polizisten werden mit Böllern und Raketen am Kottbusser Damm Ecke Sanderstraße beworfen.

Was bleibt, sind schwarze Flecken. Dort, wo die Mülleimer in Flammen standen, zieht sich nun geschmolzenes Plastik wie eine Narbe über den Asphalt. Sonst ist nichts mehr von den Barrikaden zu sehen, die in der Silvesternacht in der Sanderstraße brannten. Am Montag nach Neujahr wurde der gröbste Müll bereits weggeräumt. Doch die Nacht wirkt weiter. Anwohner*innen und Politiker*innen fragen sich: Woher kam dieser Gewaltausbruch? Und was folgt daraus?

Verletzungen mit Feuerwerk gehören zur Neujahrsstatistik. Wenn Pyrotechnik in betrunkene Hände fällt, muss mit Unfällen gerechnet werden. Neu ist aber anscheinend das Ausmaß der gezielten Angriffe auf Einsatzkräfte der Polizei und Feuerwehr. 41 Polizeibeamt*innen wurden laut Polizeiangaben verletzt, sowie 15 Beschäftigte der Berliner Feuerwehr, zwei von ihnen landeten im Krankenhaus. Die Feuerwehr war laut Pressemitteilung »von der Masse und Intensität der Angriffe« überrascht, Lars Wieg von der Deutschen Feuerwehrgewerkschaft spricht in einem Interview mit Zeit Online von einer »neuen Dimension der Gewalt«. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) fordert »eine bundesweite Debatte über Konsequenzen«.

Schnell folgen rassistische Narrative. Der Grund für die Gewalt soll plötzlich in der »Kultur« migrantischer Jugendlicher liegen. Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn hält im Gespräch mit T-Online »ungeregelte Migration« und »gescheiterte Integration« für die Ursachen. Ohne diese Logik weiterzuführen, lässt sich die Frage stellen, ob die Angriffe Ausdruck einer Wut auf den Staat waren – einer Wut kriminalisierter, ausgegrenzter, diskriminierter und perspektivloser junger Männer. Denn auch wenn die Brennpunkte in Berlin in so unterschiedlichen Bezirken wie Schöneberg, Kreuzberg, Mitte und Charlottenburg lagen, zeigt ein Blick auf die Polizeimeldungen: Wenn Raketen und Böller gezielt auf Streifenwagen oder Polizeiwannen flogen und dem Einsatz kein anderer Grund vorausging, dann geschah das häufig in Neukölln.

Wie zum Beispiel in der Sanderstraße, die auf der Höhe der U-Bahnstation Schönleinstraße auf den Kottbusser Damm führt. Zwischen Kiosk, Dönerbude und Friseurladen haben sich eine teure Boutique und eines der typischen Instagram-Cafés eingenistet. An dem viel zu lauen Montagabend nach dem Silvesterwochenende sitzen hippe Jugendliche vor einer Pizzeria, das Café ist gut besucht. Zwei Familien unterhalten sich auf dem Gehweg. »Hat es hier wirklich gebrannt?«, fragt ein Kind.

Zum Jahreswechsel wurde die Nebenstraße zum Schlachtfeld. 200 Vermummte hätten mit brennenden Mülltonnen die Abzweigung zum Kottbusser Damm blockiert und die anrückende Feuerwehr angegriffen, berichtet die Pressestelle der Polizei. In sozialen Medien werden die entsprechenden Videos geteilt: Nicht nur Container, auch E-Roller, Fahrräder und zwei Autos brennen, horizontale Raketenabschüsse sorgen für gefährliches Glitzern auf Augenhöhe. Geschossen wird vor allem auf Einsatzkräfte.

Seine »Abis« hätten die Polizei zurückgedrängt, erzählt ein junger Mann am Montagnachmittag. Der 18-Jährige wohnt gegenüber der Sanderstraße. Er habe zugeschaut, wie ältere »Brüder«, »Abis« auf Türkisch, den Krawall gestartet hätten. »Die Polizei konnte nichts machen, also ist sie wieder weg und später nochmal gekommen«, erinnert er sich. Über die Motivation des Angriffs kann er nichts sagen.

Alles Idioten und Chaoten, findet ein Kioskbesitzer. Er habe bekannte Gesichter gesehen, natürlich, er kenne doch »die Möchtegern-Kriminellen« aus der Nachbarschaft. Die hätten einfach ihren Spaß gewollt. »Die fackeln das Haus der eigenen Eltern ab, ohne nachzudenken. Das war einfach nur Randale.«

Ein Cafébesucher auf der gegenüberliegenden Straßenseite sieht das anders. Es gehe den jungen Männern nicht nur um Spaß, sondern auch um Rache. »An normalen Tagen können Jugendliche nichts gegen die Polizei machen, und dann rasten sie an solchen Tagen aus.« Der 31-Jährige ist am Kottbusser Tor aufgewachsen. »Wir haben das früher auch gemacht, wir haben die Polizei gehasst.« Also eine nachvollziehbare Reaktion auf rassistische Polizeikontrollen und eine strukturelle Perspektivlosigkeit? So weit möchte der Mann nicht gehen. Mittlerweile nerve ihn das Geböller. In der Silvesternacht habe er Angst um sein Auto gehabt, das in einer Parallelstraße stand. Aber er verstehe nicht, warum sich die Polizei auf das Spiel eingelassen habe. »Ich glaube, gegen die Jugendlichen kann man nichts machen. Man muss warten, bis sie älter und klüger werden«, sagt er.

Die Angriffe zeugten eher von einem sozialen als von einem sicherheitspolitischen Problem, findet Niklas Schrader, innenpolitischer Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. »Da besteht offensichtlich eine große Wut auf den Staat. Und Frustration. Es scheint mir schon etwas anderes als fehlender Respekt zu sein, eher ein Ventil für soziale Spannungen«, sagt Schrader »nd«. Ausgeweitete Verbotszonen würden das Problem nur verschieben, in seinen Augen müsste bereits der Verkauf von Feuerwerkskörpern limitiert werden. Zusätzlich brauche es sozialpolitische Antworten anstatt immer stärkere Repression: »Respekt erreicht man nicht mit dem Holzhammer.«

Was in den öffentlichen Diskussionen über die Attacke bisher unterging: Im Vorfeld hatten linksradikale Kanäle wie der Demoticker in die Sanderstraße eingeladen. »00:00 Uhr Silvester Start«, hieß es vielsagend in dem Aufruf. Ohne zu wissen, wer hinter der Aufforderung steckte und wer ihr folgte, entsteht der Eindruck, dass die Barrikaden und Angriffe von Teilen der linken Szene unterstützt wurden. Im Nachhinein verklärt der Autor Sebastian Lotzer auf der anarchistischen Plattform »Non« die Eskalation in der Sanderstraße als Moment revolutionärer Freiheit. Und projiziert eine linke Sehnsucht nach dem proletarischen Aufbegehren auf die Böllerwerfer*innen.

Wenn es ein revolutionäres Potential gab, ist es verpufft. Übrig bleiben reaktionäre Rufe nach härterer Strafverfolgung, rassistische Instrumentalisierung und schwarze Flecken auf dem Asphalt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.