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- Serie "Bonn"
Drei Minuten bis zur Entnazifizierung
Der Sechsteiler »Bonn« blickt in die tiefbraunen Ecken bundesrepublikanischer Nachkriegsmachtpolitik
Eins zu dreißig. So ist grob geschätzt das Verhältnis von Faschisten zu Widerstandskämpfern, wann immer ARD und ZDF die deutsche Nachkriegszeit erzählen, was beide bekanntlich ebenso häufig tun, wie deren Realität zu verdrehen. Kritische Begrifflichkeiten sind da eher am Rande historischer 90- bis 270-Minüter zu hören, wenn der einzige Nazi im Ort Richtung Ende verstoßen wird. In »Bonn« dagegen dauert es nur 220 Sekunden, bis das Wort »Entnazifizierung« fällt und weitere 60 zum ersten »KZ«. Beides unerhört im deutschen TV-Geschichtsmelodram.
Mehr noch: die Wirtschaftswundermilieustudie riecht nach Schubumkehr einer Fernsehunterhaltung, wie Guido Knopp sie Anfang der 90er zum salonrevisionistischen Standard öffentlich-rechtlicher Volkspädagogik dokudramatisierte. In den Mehrteilern des nationalkonservativen ZDF-Historikers galt: pro Reichsdorf ein Nazi, zwei Mitläufer, drei Kriegsgewinnler. Das Drehbuch von Regisseurin Claudia Garde dagegen zeigt Dutzende Nazis, denen mal mitgelaufene, meist mitschuldige Kriegsgewinnler aus CDU/CSU/FDP die Türen ins Bonner Establishment öffnen.
Weil die Eltern der Boomer im ARD-Publikum Geschichtsstunden gefühlvoll mögen, braucht das demokratische Abwehrgefecht gegen Adenauers Affinität zu NS-Verbrechern allerdings noch etwas Romantik. Und die geht so: Als Sprachschülerin Toni (Mercedes Müller) nach der Standpauke ins heimische Bonn zurückkehrt, vermittelt Papa Gerd Schmidt (Juergen Maurer) sie als Fremdsprachenkorrespondentin ins Büro des NS-Kriegsverbrechers Reinhard Gehlen (Martin Wuttke), der da gerade mit aller (illegalen) Kraft den BND-Vorläufer aufbaut.
Das wiederum macht die sympathische Sekretärin für Otto John (Sebastian Blomberg) interessant, als erster Verfassungsschutzpräsident einer der wenigen Widerstandskämpfer in Führungspositionen der jungen Republik. Damit wir wissen, woran er ist, verhilft sein Gegenspieler Gehlen dem untergetauchten SS-Hauptsturmführer Alois Brunner gleich mal zu einer neuen Identität, weshalb John den Romeo-Spion Berns (Max Riemelt) auf Toni ansetzt. Und dass die sich trotz kalkulierter Verkuppelung im Lauf der sechs Folgen tatsächlich nahekommen, gehört zur zeitgemäßen Ausstattung wie Schlapp- oder Kompotthüte.
Im populären Erzählstrang mag »Bonn« demnach eskapistische Nebelkerzen zünden; der publikumswirksamere leuchtet erstmals im Primetime-Historytainment tiefbraune Ecken bundesrepublikanischer Nachkriegsmachtpolitik aus, ohne sie als Feigenblatt verschwörungsideologischer Thesen vom ersten Hitler-Opfer Deutschland zu missbrauchen. Viele Hauptcharaktere, vom Baulöwen Gerd Schmidt bis Kanzleramtschef Hans Globke (Sascha Nathan), sind deshalb endlich mal mehr als Platzhalter von Knopps Einzeltäterlüge gegen alle Kollektivschuldrealität.
Hier nämlich verkörpern sie den Mainstream jener wachstumsbesoffenen Epoche, der von Entnazifizierung, geschweige denn echter Rechenschaft nichts wollte. Das weltpolitische Spannungsfeld des Ost-West-Konflikts habe halt – so lässt der Kanzler Otto John ausrichten – »die Konzentration auf linksnationale und kommunistische Subversivenverbände« erfordert. Und so wird daraus ein Politthriller, bei dem sich Guido Knopp hoffentlich vor Wut das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse vom Dreiteiler reißt.
Wobei natürlich auch dieser Sechsteiler seine Klischees und Macken hat. So viel Wert »Bonn« auf Kostüm (Petra Krey) und Szenenbild (Ingrid Henn) legt, sprechen 1954 noch weniger Leute Idiom als 70 Globalisierungsjahre später beim 1. FC Köln. Wenn ein Kriegsverbrecherprozess verloren geht, verbalisiert das irgendwer für Begriffsstutzige mit »es war alles umsonst«. Derweil manifestiert Gehlen seine Vaterlandsliebe durch die zum deutschen Schäferhund. Und wenn Toni auf Befehl ihrer Vorgesetzten, sie solle zum Chef, »sind Sie sicher?« fragt, raschelt das Drehbuchpapier über der Antwort, »wenn Sie Sicherheit wollen, ist die Arbeit beim Geheimdienst nicht das Richtige für Sie«, lauter als alle NS-Akten im Reißwolf der Adenauer-Jahre zusammen.
Dass die Serie dennoch empfehlenswert ist, hat folglich andere Gründe: Weil sie sich auf unbetretenes Unterhaltungsterrain wagt, weil sie dem (Selbst-)Betrug revisionistischer Fiktionen von »Stauffenberg« bis »Tannbach« Wahrhaftigkeit vor die Knobelbecher knallt, weil selbst die Lovestory selten peinlich gerät, und weil Komponist Florian Tessloff Schießereien schon mal mit alten »Stahlnetz«-Bläsern zersägt. Zu schade, dass es kein Happy End gibt. Hans Globke starb erst 1973 hochangesehen mit 75 und Alois Brunner gar 25 Jahre später. Dank Adenauers nationalsozialistischer Seilschaft wurden beide nie belangt.
Verfügbar in der ARD-Mediathek
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