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Von der Kohle bis zum Elektroauto
Der Schutz strategischer Branchen stand am Anfang der europäischen Einigung.
Im Gegensatz zu Menschen schließen Staaten Freundschaft per Vertrag. So auch Deutschland und Frankreich vor 60 Jahren. An diesem Wochenende würdigen die Regierungen beider Länder das Jubiläum des Élysée-Vertrags mit einem Gipfeltreffen. Bevor sich beide Staaten am 22. Januar 1963 ihrer wechselseitigen Freundschaft versicherten, waren sie allerdings schon Geschäftspartner geworden: Am Anfang der europäischen Einigung stand mit der Montanunion ein Stück Industriepolitik zum Schutz strategischer Branchen, insbesondere vor den USA. Um diesen Schutz geht es beiden heute noch immer – und immer stärker. Erhalten geblieben sind auch die Widersprüche der deutsch-französischen Kooperation, die die Widersprüche des gesamten EU-Projekts widerspiegeln.
Zwölf Jahre vor dem Abschluss des Élysée-Vertrags wurde auf Initiative der Regierung von Charles de Gaulle die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet, die sogenannte Montanunion. In ihr wurde die gesamte Kohle- und Stahlproduktion der Bundesrepublik und Frankreichs in einer Organisation unter gemeinsamer Kontrolle zusammengelegt. Ausgangspunkt war die ökonomische Unterlegenheit der europäischen Staaten gegenüber den USA. Um einen ruinösen Subventionswettlauf wie auch ein unkontrolliertes Schrumpfen ihrer kriegswichtigen Industrien zu verhindern, einigten sich Frankreich und die BRD auf ein System von staatlichen Zuschüssen und Produktionsquoten. So sollten diese strategischen Branchen schrittweise rationalisiert und weltmarktfähig gemacht werden. Gleichzeitig erlaubten damit die ehemaligen Kriegsgegner einander die Kontrolle ihrer nationalen Grundstoffindustrien. Italien und die Benelux-Länder schlossen sich dem Abkommen an.
Damit war der Grundstein gelegt für eine europäische Einigung, die heute als EU und Euro existiert. Antreiber des Projekts Montanunion war der Generalkommissar für den französischen Wirtschaftsplan, Jean Monnet, der heute als einer der »Väter Europas« gilt. Seine Motivation beschrieb er bereits 1947: »Die Macht der westeuropäischen Staaten zu stärken, und um der Gefahr begegnen zu können, die uns von der amerikanischen Supermacht droht, dafür muss eine wirkliche Gegenmacht geschaffen werden, die nur die endgültige Vereinigung Europas möglich machen kann.«
Gemeinsam gegen die USA
Dieses Projekt wollte auch Frankreichs Präsident de Gaulle mit dem Élysée-Vertrag vorantreiben. Von ihm ist der Satz überliefert: »Seit Jahrhunderten haben die Engländer versucht, die Annäherung der Gallier und Germanen zu verhindern. Heute sind es die Amerikaner.« Trotz dieser Ansagen ließ die US-Regierung die BRD und Frankreich gewähren. Schließlich waren die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg ökonomisch und politisch unbesiegbar, aus Europa drohte ihnen keine Gefahr. Zudem erhoffte sich Washington durch die deutsch-französische Kooperation eine Beschleunigung des Wiederaufbaus Europas. Und schließlich legte die Montanunion die junge Bundesrepublik auf eine Westintegration fest – weswegen die DDR-Führung sie als »Rüstungsbasis des aggressiven Nordatlantikpaktes« kritisierte.
Die Regierung Konrad Adenauers erteilte dem französischen Ansinnen allerdings eine Teil-Absage. Die offensive Ausrichtung des europäischen Bündnisses gegen die Weltmacht USA trug sie nicht mit. Dem Élysée-Vertrag stellte sie eine Präambel voran. In ihr wird die deutsch-französische Kooperation gekoppelt an »eine enge Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika«, an die »Wiederherstellung der deutschen Einheit«, die »gemeinsame Verteidigung im Rahmen des nordatlantischen Bündnisses« und die Einbeziehung Großbritanniens in die 1957 gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. »Deutsche Politiker haben Angst, sich nicht ausreichend vor den Angelsachsen zu erniedrigen!«, schäumte damals der Vertraute de Gaulles, Alain Peyrefitte. »Sie würden es verdienen, dass wir den Vertrag aufkündigten und uns mit den Russen verständigten.«
Dazu ist es nicht gekommen. Stattdessen erwies sich das westdeutsch-französische Projekt als »Motor« der europäischen Einigung, als Treiber für EU-Binnenmarkt und Gemeinschaftswährung, meist an der Seite der USA, zuweilen auch neben, aber nie explizit gegen die Vereinigten Staaten. Die Widersprüche des Projekts blieben dabei stets erhalten: Auf globaler Ebene agierten Deutschland und Frankreich einerseits getrennt, als Konkurrenten um Macht und Marktanteile innerhalb der US-Weltordnung, andererseits gemeinsam als Konkurrenten der USA. Innerhalb Europas wiederum stehen sie einerseits zusammen als Führungsmächte der EU, andererseits konkurrieren sie gegeneinander darum, wer die bestimmende Macht in Europa ist.
Gemeinsame Industriepolitik, also der Aufbau und Schutz strategischer Sektoren ihrer Ökonomie, stand zwar am Anfang der deutsch-französischen Freundschaft. Sie beschränkte sich allerdings in den folgenden Jahrzehnten im Wesentlichen auf den Aufbau militärisch-technologischer Kapazitäten, vor allem in der Luft- und Raumfahrt. So gilt Europas größter Rüstungskonzern, Airbus, als ein herausragender Erfolg europäischer Rüstungspolitik.
Seit kurzem steht Industriepolitik allerdings wieder ganz oben auf der deutsch-französischen Agenda. Die EU-Staaten bündeln Ressourcen zum Aufbau einer eigenen Batterieproduktion, einer europäischen Chipindustrie, bei der Entwicklung von Supercomputern und Energienetzen. Die Ursache ist zum einen die technologische Umwälzung der globalen Industrie, Stichwort Digitalisierung und Klimaschutz. Zum anderen der Aufstieg Chinas zum geopolitischen Rivalen und daraus folgend die verstärkten Bemühungen der USA, die eigene Dominanz mittels Technologieführerschaft ihrer Industrie zu sichern.
2015 präsentierte die Regierung in Peking ihre Strategie »Made in China 2025«, mit der China seine Rolle als »Fabrik der Welt« beenden und in die oberen Glieder der globalen Wertschöpfungsketten aufsteigen wollte. »Bis zum 100. Jahrestag der Gründung des Neuen Chinas wollen wir unser Land zu einer Industriegroßmacht aufbauen, die die Entwicklung des globalen Industriesektors anführt«, verkündete der Staatsrat der Volksrepublik. Die USA reagierten auf diese Bedrohung. Die Regierung unter Donald Trump überzog China mit Handelszöllen und Exportbeschränkungen. Daneben wurde 2018 die »Strategie für Amerikanische Führerschaft in fortgeschrittenen Industrien« verkündet. Darin bezeichnen die USA ihre industrielle Führung als »Motor der amerikanischen Macht und Säule unserer nationalen Sicherheit.«
Industrie als Machtressource
Technologievorsprung bedeutet industrielle Stärke, und industrielle Stärke bedeutet globale Macht – diese Gleichung wurde auch in Europa verstanden. Anfang Februar präsentierte der deutsche Wirtschaftsminister Deutschlands »Industriestrategie 2030«, deren »zentrales Ziel« es ist, »die technologische Führungsposition Deutschlands und der EU zu sichern und auszubauen«. Zwei Wochen später folgte das deutsch-französische Manifest über die Industriepolitik. »Europas Stärke in den kommenden Dekaden wird wesentlich von unserer Fähigkeit abhängen, eine globale Industriemacht zu bleiben«, heißt es dort. In der Konkurrenz mit den USA und China stehe Europa »vor einer einfachen Wahl: Vereinen wir unsere Kräfte, oder lassen wir unsere industrielle Basis untergehen« – zum Schaden von »Europas Souveränität und Unabhängigkeit«.
Diese »Vereinigung der Kräfte« fand statt, unter anderem durch die Gründung des 750-Milliarden-Euro schweren Wiederaufbaufonds sowie der europäischen Industriestrategie »Green Deal«. Insbesondere die erwarteten Erträge aus dem Klimaschutz stehen derzeit im Zentrum der Rivalität zwischen den USA und der EU. »Diejenigen, die die Technologien entwickeln und herstellen, die das Fundament der Wirtschaft von morgen bilden, werden den größten Wettbewerbsvorteil haben«, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diese Woche in Davos. »Alle sind sich dieser Chance bewusst.« Auch die USA: Sie haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) ein massives Subventionsprogramm für ihre Industrie vorgelegt. Damit folgen sie inzwischen dem Weg Deutschlands, dessen Ziel Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) kürzlich so beschrieb: »Wir wollen, dass in unserem Land die Technologien entwickelt werden, die letztlich die ganze Welt für die Energiewende braucht.«
Sowohl die Regierung der USA wie auch die der EU betonen dabei, es gehe ihnen um die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Rettung des Klimas. Beide stellen aber auch klar, dass sowohl die »sauberen« Jobs wie auch der Klimaschutz Mittel sein sollen, ihre industrielle Führung auszubauen.
In diesem Kampf sind die Rollen vertraut: Zum einen schließen sich Deutschland und Frankreich den USA an, um vor allem gegen China anzugehen. 2021 wurde ein transatlantischer Handels- und Technologierat (TTC) eingerichtet. Mit ihm wollen die USA und die EU ihre kombinierte Marktmacht dazu nutzen, weltweite Technologie- und Produktstandards zu setzen.
Zum anderen schließen sich Deutschland und Frankreich gegen die Vereinigten Staaten zusammen, um dafür zu sorgen, dass auch Europas Konzerne von Washingtons Subventionsmilliarden profitieren. Hierbei übernimmt, wie gewohnt, Frankreich die offensive Rolle: Bereits im vergangenen Oktober bezeichnete Frankreichs Präsident Emmanuel Macron das US-Paket als »super-aggressiv« und sein Finanzminister Bruno Le Maire sagte, die Industriepolitik der USA »ist uns wohlbekannt« – es sei die Strategie, die China seit zehn Jahren anwende. Beide fordern eine »koordinierte, zügige und einheitliche Antwort an unsere amerikanischen Alliierten«. Die deutsche Seite stellt sich zwar hinter die französischen Klagen. Bundeskanzler Olaf Scholz aber blieb zuletzt vorsichtig: Er sei sich »sicher, dass ein Handelskrieg vermieden werden kann«, sagte er diese Woche.
Und schließlich ist der aktuelle Kampf um industrielle Dominanz auch eine Konkurrenzaffäre zwischen Deutschland und Frankreich. Paris verweist darauf, dass der Anteil der Industrie in Frankreich auf etwa 13 Prozent der Wertschöpfung gesunken sei, in Deutschland aber fast doppelt so hoch liege. Zudem wird beklagt, Deutschland nutze seine Finanzmacht, um die europäischen Partner beiseite zu drängen. Schließlich machten die jüngsten Beihilfen Deutschlands knapp die Hälfte aller europäischen Beihilfen aus, Frankreichs Anteil liege nur bei einem Viertel. Daher fordert Macron die Aufnahme gemeinsamer europäischer Schulden, um die Kosten der EU-Industrieförderung gleichmäßiger zu verteilen. Weitere gemeinsame Schulden allerdings lehnt die Bundesregierung, insbesondere Finanzminister Christian Lindner (FDP), bislang ab.
Im Ergebnis nimmt die EU offiziell eine Zwischenposition ein: Sie plant zwar einen europäischen »Souveränitätsfonds«, mahnt aber gleichzeitig das deutsch-französische Duo, in der Konfrontation mit den USA nicht zu weit zu gehen. Angesichts des Ukraine-Krieges »ist jetzt nicht die Zeit für einen Handelskrieg mit dem engsten Partner und Verbündeten«, sagte von der Leyen im Dezember. Und Kommissions-Vizepräsidentin Margrethe Vestager warnte: »Wir können nur einen Krieg auf einmal meistern.« Aber wie schon vor 60 Jahren sind es die Franzosen, die einen Schritt weiter gehen: »In der Welt, in der wir heute leben«, so EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton, »müssen wir in der Lage sein, an verschiedenen Fronten gleichzeitig zu kämpfen.«
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