Der bleierne Kanzler

Christoph Ruf über 60 Jahre deutsch-französische Partnerschaft

Am Wochenende hatte ich ein Schlüsselerlebnis: Selbst die nüchternsten Agenturmeldungen können bei mir Irritationen auslösen. Zumindest, wenn sie mit dem Kanzler zu tun haben, jener Sphinx mit Halbglatze. »Jubiläumsfeier zum 60. Jahrestag des Elysée-Vertrages: Scholz reist nach Paris«, war da zu lesen. Und würde die SNCF, die französische Staatsbahn, nicht gerade bestreikt, ich wäre sofort in den nächsten TGV gestiegen, um alle, die ich in Paris kenne, zu warnen: Passt auf, chers amis, ihr mögt den ein oder anderen Anschlag überlebt haben und Euro-Disney dazu. Aber jetzt wird es wirklich ernst. Wenn unser Kanzler etwas tun muss, was er zuvor noch nie getan hat – nämlich feiern –, ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Gut möglich, dass er sogar etwas lauter als im Flüsterton spricht und nach einem halben Glas alkoholfreien Champagner fragt. Und dann ist Olaf richtig on fire. Zugegeben, auch das ist eine schlimme Vorstellung.

Gut kann man sich hingegen vorstellen, wie der Mann sich bei seiner eigenen Abi-Feier angestellt hat – vorausgesetzt, die anderen haben ihn überhaupt eingeladen. Eine wilde Party in den ausgehenden Siebzigern, irgendwo in der Brache des Hamburger Nordostens. Viel Punkrock, viel Drogen, noch mehr Alkohol. Und irgendwo in der Ecke der junge Olaf, damals noch mit vollem lockigem Haar, wie er an der Getränkeausgabe sitzt, Strichliste führt und in sich hineinlächelt: Hach, diese jungen Leute… Um kurz vor Mitternacht geht es dann nach Hause. Morgen müssen schließlich in Rahlstedt Sozi-Flugblätter verteilt werden.

Christoph Ruf (Print)
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenheiten.

Nun ist mir Scholz’ Feierkumpan Emmanuel Macron nicht unbedingt sympathischer als der bleierne Kanzler. Doch am Sonntag musste er einem ganz kurz leidtun. Da muss man deutsch-französisches Pathos walten lassen und sitzt einem Mann gegenüber, der in den vergangenen 13 Monaten so einiges dafür getan hat, um 60 Jahre deutsch-französische Partnerschaft mit dem Hintern einzureißen. So war Scholzens Regierung in bester neoliberaler Tradition gegen einen europäischen Gaspreisdeckel – und führte dann einen nationalen ein. Sie kaufte den europäischen Markt leer und versaute für die anderen Mitgliedsstaaten so die Preise. Bei so viel nationalem Ellenbogen wundert es dann auch nicht mehr, dass man Petitessen wie ein 200-Mitglieder-Programm nicht nur nicht mit Paris abstimmt. Nein, man informiert das Nachbarland nicht mal über die eigenen Pläne.

Warum Scholz weder den Wählerinnen und Wählern noch den Regierungen anderer Länder erklärt, was er tut, ist dabei eine spannende Frage. Ist es nur das nachgewiesene Fehlen jedweden rhetorischen Talents? Oder ist der Mann wirklich so arrogant, wie es nicht wenige Menschen in Berlin behaupten? Das wäre ein Problem, denn ein Kanzler, der sich für zu schlau hält, um seinen Wählerinnen und Wählern Zugang ins Elysium seiner erleuchteten Gedanken zu gewähren, lebt eigentlich in der falschen Staatsform. Aber immerhin wäre dann die Frage geklärt, warum diese Regierung nach nur einem Jahr Amtszeit in Europa schon so unbeliebt ist.

Wenn Scholz zurückfliegt – so ungerecht ist das Leben –, wird er dennoch bester Laune sein. Macron nimmt sich gerade schließlich die von Scholz einst mitersonnene Agenda 2010 zum Vorbild, pampert die Reichen und will die Masse der Bevölkerung länger arbeiten lassen. Bis 64 wohlgemerkt, was immer noch drei Jahre weniger wäre als der deutsche Status Quo. Über eine Million Menschen haben in Frankreich am vorvergangenen Wochenende gegen Macrons Rentenpläne demonstriert. Scholz wird über die demonstrierenden Menschenmassen hinwegfliegen. Er wird dabei sein feinstes Lächeln aufsetzen und beim Aussteigen die Stille in Berlin genießen: Kein Mensch weit und breit, der demonstriert. Und genau das ist der Grund, warum in Deutschland die Rente mit 70 früher eingeführt werden wird als in Frankreich die mit 64.

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