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Kampf ums gute Leben

Der Dokumentarfilm »Kalle Kosmonaut« begleitet einen Marzahner Jugendlichen zehn Jahre lang

Kalle, »'n janz Lieber, eigentlich«.
Kalle, »'n janz Lieber, eigentlich«.

Die Allee der Kosmonauten verläuft quer durch die Ostberliner Trabantensiedlungen Marzahn und Hellersdorf und ist gesäumt von meist elfgeschossigen Plattenbauten. Ihr Name zeugt von Zeiten, die wenigstens den Anschein einer wie auch immer gearteten Vision eines gesellschaftlichen Fortschritts erwecken wollten. Der hehre Anspruch blieb letztlich im mehlbetauten Mittelmaß stecken – gut ablesbar an der anspruchslosen Zweckarchitektur der Plattenbaueinöde –, aber immerhin gab es so etwas wie eine Vision.

Heute wird, wer Visionen einfordert, zum Arzt geschickt, und die einst Fortschritt verkörpern wollenden sozialistischen Wohngebiete sind zum Sinnbild für Tristesse und soziale Randständigkeit geworden. Hier lebt Pascal, genannt Kalle. Über zehn Jahre hinweg haben die beiden Filmemacher Tine Kugler und Günther Kurth ihn ins Erwachsenwerden begleitet. Kennengelernt hatten sie den damals zehnjährigen Kalle anlässlich einer Doku über sogenannte Schlüsselkinder, die früh auf sich allein gestellt sind und Verantwortung übernehmen müssen, weil die meist alleinerziehenden Eltern zu viel arbeiten.

Dass die beiden Regisseure anschließend an Kalle dranblieben, ohne zu wissen, wohin die Reise geht, muss als Glücksfall gesehen werden. Solche Langzeitbeobachtungen, vor allem von Kindern und Jugendlichen, sind schwierig zu finanzieren, tragen allzu viele Unwägbarkeiten in sich und sind daher selten. Die Reihe von Filmen über die Kinder von Golzow von Barbara und Winfried Junge fällt einem natürlich sofort ein. Sie gilt als die längste dokumentarische Langzeitbeobachtung, gehört inzwischen aber eher zur Filmgeschichte denn zum Gegenwartskino.

Vorbild für »Kalle Kosmonaut« war vielmehr Richard Linklaters Film »Boyhood« (2014), der über einen Zeitraum von zwölf Jahren gedreht wurde und das Aufwachsen eines Jungen bis zum Erwachsenenalter zeigt. Während diese beeindruckende filmische Langzeitstudie allerdings fiktiv ist, also als Spielfilm daherkommt, ist das Drehbuch von »Kalle Kosmonaut« vom wirklichen Leben geschrieben. Wenig erstaunlich ist das genauso spannend wie die ausgedachte Geschichte eines Autors mit seinen dramaturgischen Wendungen und Winkelzügen. Von denen gibt es auch in Kalles echtem Leben genügend. Umso erstaunlicher, dass es deutschen Regisseuren so selten gelingt, lebensnahe Figuren auf die Leinwand zu bringen, bräuchten sie diese doch eigentlich nur dem Leben abzulauschen.

»Ich will auch was erreichen«, sagt Kalle mit 14, »nicht so ein Ghettokind werden oder am Alex herumhängen und Geld schnorren.« Mit Ghettokind meint er jemanden, der nur »Scheiße baut, Alkohol und Drogen nimmt, halt einfach nicht klarkommt«. Während er dies sagt und noch relativ unbeschwert vom Druck des Alltags wirkt, nimmt seine Ghettokarriere allerdings längst schleichend ihren Lauf. Dabei hätte Kalle durchaus das Potenzial, etwas aus sich zu machen.

Sozialarbeiter Simon aus der »Arche«, der Kalle lange kennt, ist jedenfalls beeindruckt vom Einfallsreichtum und Elan des Jungen. In der Tat ist Kalle ein schlaues Kerlchen, kann sich gut ausdrücken und seine Gefühle benennen. Wären da nur nicht die Umstände und das soziale Umfeld, in dem Kalle aufwächst und dem er nicht entkommen kann. In diesem Sinne ist »Kalle Kosmonaut« ein Dokument sozialer Determination, wie die Soziologen sagen und damit die Vorbestimmtheit der Lebenswege infolge der Herkunft meinen. Diese prägt bestimmte Rollenerwartungen, der Gruppendruck und die Regeln der Gemeinschaft bestimmen das Denken und Handeln. Was an und für sich nicht schlimm wäre, würden sich soziale Milieus mischen und aus diesem Amalgam so etwas wie Gesellschaft entstehen. Genau dies passiert aber heute nicht mehr; die verschiedenen Lebenswelten sind streng segregiert, und es gibt kaum Berührungspunkte. Die Abgrenzung erfolgt dabei auf denkbar einfache Weise, nämlich über den Quadratmeterpreis der Wohnungen.

Der erwähnte Sozialarbeiter aus bürgerlichem westdeutschen Hause lädt Kalle sogar zu seiner Hochzeit ein, eine seltene Gelegenheit für den Jungen, in eine andere Welt, eine andere soziale Wirklichkeit einzutauchen – in der er allerdings wie ein Exot wirkt. Zurück in Berlin, ist er wieder gefangen in einem familiären Umfeld, das noch immer – nach über 30 Jahren! – von den Verwerfungen der Zeit nach der Wiedervereinigung geprägt ist. Der damals vermeintlich gewonnenen Freiheit kann der Großvater noch heute nichts abgewinnen, zu eindeutig zählte er zu den Verlierern des Umbruchs. »Seitdem ick frei bin, bin ick aus Berlin nich mehr rausjekommen«, so sein Fazit.

Den Halt, den die nach der Wende arbeitslos gewordenen Großeltern ihrer Tochter nicht geben konnten, vermag sie, die nun selbst Mutter ist, auch Kalle kaum zu geben. So mäandert dieser durchs Leben und kommt mit zwölf das erste Mal in Kontakt mit der Polizei. Auch wenn die Polizistin, die mit Kalle öfter zu tun hat, feststellt: »Is’n janz Lieber, eigentlich«, ändert das nichts an den Gegebenheiten im Kiez. Langeweile, Mutproben, Alkohol, die falschen Freunde … mit 17 wird Kalle wegen eines Gewaltdelikts zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Über lange Zeit war so für die Filmemacher nur Briefkontakt mit Kalle möglich. Das tut dem Film keinen Abbruch, denn in den aus dem Off verlesenen Briefen beeindruckt die Bereitschaft Kalles zur Auseinandersetzung mit sich selbst. So lässt sich schließlich konstatieren, dass das Wagnis der beiden Regisseure, sich so lange auf Kalles Leben einzulassen, aufgegangen ist. Ihr Rezept: Keine Tipps geben, im Zweifel die Kamera im Auto lassen, nicht drehen und einfach nur zuhören, um zu verstehen.

Entstanden ist so eine kluge Reflexion über die Frage, was ein gutes Leben ausmacht. Kalle wird einer Antwort am Ende des Films zumindest nahegekommen sein – und der Zuschauer hofft mit ihm, dass der Erkenntnisgewinn von Dauer ist.

»Kalle Kosmonaut«, Deutschland 2022. Regie und Buch: Tine Kugler, Günther Kurt. 99 Min. Start: 26.1.

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