• Kultur
  • Jüdischer Widerstand

Sie ließen sich nicht wie Lämmer abführen

Jüdische Selbstbehauptung und jüdischer Widerstand gegen deutsch-faschistischen Antisemitismus

»Ich wollt nicht sterben. Was hatte ich denn Schreckliches getan, dass ich den Tod verdient haben soll?«, fragt sich Tovi, 15 Jahre jung, als er am 28. April 1943 – »ein herrlicher Frühlingstag, die Sonne stand hoch am Himmel, die Vögel zwitscherten« – mit seiner Familie nach Sobibór deportiert wurde, wie Thomas »Tovi« Blatt in einem »nd«-Interview erzählte. Auch die polnische Kleinstadt Izbica sollte nun endgültig »judenfrei« werden. »Viele, die zunächst zu uns ins Ghetto von außerhalb, aus Tschechien oder Frankreich kamen, waren ahnungslos, glaubten, es handelt sich wirklich nur um Umsiedlungsaktionen, wie ihnen weisgemacht wurde.« Die polnischen Juden jedoch wissen: Sobibór ist wie auch das nur 50 Kilometer entfernte Lager Belzec eine Todesfabrik. Wer dorthin kam, kam nie wieder zurück. Tovi hat Glück im Unglück. »Komm raus, Kleiner«, fordert ein SS-Mann den blonden, sommersprossigen Jungen auf. Es ist der Tag, an dem er seine Eltern und seinen jüngeren Bruder das letzte Mal sah.

Thomas Blatt gehörte zu der Schar Unerschrockener, die am 14. Oktober 1943 unter dem Kommando sowjetischer Kriegsgefangener, darunter Alexander Petscherski, Leutnant der Roten Armee, sowie Leon Feldhendler, vormaliges Mitglied des Judenrates von Zolkiewka, den Aufstand gegen die Mörder wagten, ein Dutzend SS-Männer töteten und den Ausbruch von 300 Häftlingen ermöglichten – von denen allerdings nur 50 überlebten. Die meisten konnte die SS wieder einfangen. Thomas Blatt war später Nebenkläger im Prozess gegen den ukrainischen »Hiwi« John Demjanjuk, der 2011 in München wegen Beihilfe zum Mord an 28 060 Menschen zu fünf (sic) Jahren Haft verurteilt wurde.

Der Aufstand von Sobibór gehört zu den spektakulärsten Widerstandsaktionen gegen deutsch-faschistische Mordlust. Thomas Blatt, 2015 verstorben, wird als Zeitzeuge zitiert auf einer Konferenz jüngst in Berlin, zu der die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz eingeladen hat. Ein halbes Jahr vor dem Ausbruch der Häftlinge von Sobibór war der Aufstand im Warschauer Ghetto ausgebrochen – gegen die täglichen Deportationen im Rahmen der »Aktion Reinhardt«. Mehrere Wochen widerstanden die Aufständischen von der Jüdischen Kampforganisation ZOB (Żydowska Organizacja Bojowa) der deutschen Übermacht. Nach ihrer Niederlage ordnete SS-Gruppenführer Jürgen Stroop grausame »Vergeltung« an, das Ghetto wurde geräumt, niedergebrannt, die Aufständischen exekutiert und die restlichen Ghettobewohner nach Auschwitz deportiert. Und doch hat der Warschauer Ghettoaufstand die Häftlinge von Sobibór inspiriert, ihnen Mut verliehen. Aber auch andernorts kam es darauf hin zu Erhebungen und Aufständen, so im Juni 1943 in Lwiw und Czestochowa, im August des Jahres in Treblinka und im September in Bialysstok. Auf sich allein gestellt wehrten sich Juden gegen das ihnen von einem menschenverachtenden, barbarischen System zugedachte Los.

Vom Massenmord wussten die Alliierten da bereits durch aus den Todeslagern geschmuggelten Informationen. »Und die ganze Welt zu alarmieren« war die Veranstaltung in Berlin überschrieben. Deborah Hartmann und Verena Bunkus vom Haus der Wannsee-Konferenz würdigten Szlama Ber Winer, der am 19. Januar 1942 aus dem Todeslager Kulmhof nach Warschau floh, um den jüdischen Widerstand dort über die Massentötungen aufzuklären. Am gleichen Tag kommandierte SS-Standartenführer Rudolf Lange die Ermordung von 900 Jüdinnen und Juden am Stadtrand Rigas, bevor er nach Berlin zur sogenannten Wannsee-Konferenz flog, auf der die technischen Details der »Endlösung der Judenfrage« besprochen werden sollten. Hartmann und Bunkus würdigten Winers Handelns als einen Akt jüdischer Selbstbehauptung im Angesicht der Shoah. Sein Report habe zu einer radikalen Änderung vom zivilen hin zum bewaffneten Widerstand geführt. Überliefert ist Winers Bericht im Ringeblum-Archiv, dem geheimen Untergrundarchiv im Warschauer Ghetto, begründet im November 1940 vom polnischen Historiker Emanuel Ringelblum. Szlama Ber Winer starb am 10. April 1942 in einer Gaskammer von Belzec. Ringelblum wurde am 7. März 1944 im berüchtigten Pawiak-Gefängnis in Warschau erschossen.

Tom Navon vom Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow offerierte neue Details über die Konstituierung und erste Aktionen der Jüdischen Kampforganisation im Warschauer Ghetto. Schon am 18. Januar 1943, drei Monate vor dem Aufstand, durchkreuzten die Widerstandskämpfer die Deportation mehrerer tausend Menschen – mit dem Erfolg, dass drei Tage später diese von den Deutschen bis auf weiteres ausgesetzt wurden. Die ZOB-Kämpfer begannen nun mit der Anlegung unterirdischer Bunker, Tunnel und Verstecke. Als am Morgen des 19. April SS-Einheiten ins Ghetto einmarschierten, um die Deportrationen fortzusetzen, wurden sie von heftigem Widerstand unter dem Kommando des 24-jährigen Mordechaj Anielewicz überrascht.

Wer will es den verfolgten Juden und Jüdinnen verdenken, dass sie Rache übten? Und dies auch nicht erst nach dem Krieg, wie etwa durch die Jüdische Brigade oder Nakam. Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, erinnerte an den 17-jährigen Polen Herschel Grynszpan, der am 7. November 1938 in Paris den deutschen Botschaftsrat Ernst von Rath erschoss, um seine Familie zu rächen; sein Attentat wurde von den Nazis zum Vorwand für den Novemberpogrom in Deutschland zwei Tage darauf genommen. Wenzel erinnerte auch an David Frankfurter, der am 4. Februar 1936 den NSDAP-Landesgruppenleiter in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, in Davos tötete und, trotz Verständnis vieler Schweizer für seine Tat, noch im selben Jahr zu 18 Jahren Haft verurteilt worden ist; er starb 1982 in Tel Aviv.

Es gibt viele weitere Beispiele jüdischer Selbstbehauptung und jüdischen Widerstands, auch noch etliche unbekannte. Sie sollten weiter erforscht und erinnert werden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.