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Schneller Wohnen
Obdachlose Menschen fordern Lösungen abseits von Notübernachtungsunterkünften
Berlin im Januar ist kalt, nass und äußerst ungemütlich. Wer kann, verbringt seine Zeit lieber drinnen im Warmen als draußen auf den Straßen. Viele können das nicht. An diesem Dienstag wird wie jedes Jahr am 31. Januar die Bundesstatistik zur Zahl wohnungsloser Menschen veröffentlicht. Das nehmen einige Initiativen zum Anlass, um an diesem Tag das Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit in den Fokus zu rücken. In diesem Jahr wurden die Ergebnisse einer qualitativen Befragung von 207 obdachlosen Menschen veröffentlicht, die erstmals die statistischen Zahlen des Bundes um Einblicke in die tatsächliche Lebensrealität auf der Straße ergänzt.
»Die wichtigste Erkenntnis ist, dass wir unbedingt das System der Notunterkünfte überwinden müssen«, sagt Stella Kunkat vom Verband für sozial-kulturelle Arbeit zu »nd«. Sie ist Referentin für das Projekt »Zeit der Solidarität«, das von der Senatssozialverwaltung unterstützt wird und in dessen Rahmen die Befragung durchgeführt wurde. In der Befragung geben 141 Menschen »Wohnraum und Schlafmöglichkeiten« als dringendsten Bedarf in ihrer aktuellen Situation an. »Viele weitere Probleme entstehen durch die fehlende Wohnmöglichkeit oder werden dadurch erheblich verstärkt. Obdachlosigkeit ist ein Teufelskreis«, ergänzt Kunkat.
Notunterkünfte empfinden viele als keine adäquate Schlafmöglichkeit, sie werden von einigen der Befragten sogar komplett gemieden. Die Hauptprobleme dieser Einrichtungen lassen sich laut dem Bericht unter »Gewalt, Angst und mangelnde Sicherheit« zusammenfassen. Die Ergebnisse bestätigen, was Initiativen und Selbstvertretungen obdach- und wohnungsloser Menschen seit Jahren wiederholen: Zuallererst müssen langfristige Wohnlösungen gefunden werden, dann können auch weitere Probleme angegangen werden. Diesen Ansatz verfolgen auch aktuelle Projekte der Sozialverwaltung wie Housing First oder der Berliner Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030.
Als weitere Erkenntnis aus der Befragung bewertet Kunkat die tieferen Einblicke in die psychischen Belastungen: »Ganz viele nennen Einsamkeit, Stress und Unruhe als große Probleme. Durch die qualitativen Gespräche kommen die seelischen Probleme noch mehr zum Vorschein.«. Außerdem sei es erschreckend, wie allgegenwärtig Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen für die Befragten sind. »65 Prozent haben angegeben, selbst Gewalt und Diskriminierung erlebt zu haben«, sagt die Projektreferentin. Viele andere hätten erklärt, davon nur verschont zu bleiben, weil sie sich aktiv darum bemühten, entsprechende Orte, Situationen und Menschen zu meiden.
Was aus dem Bericht weiterhin hervorgeht, ist, dass die hohen bürokratischen Ansprüche innerhalb des öffentlichen Unterstützungssystems in vielen Fällen zu Obdachlosigkeit führen. »Die meisten Ursachen, die genannt wurden, waren bürokratische Probleme: fehlende Dokumente, Informationen und Unterstützung über und durch das Sozialsystem sowie große Schwierigkeiten beim Zugang zu diesem«, heißt es im Bericht.
Um zielgerichtet Verbesserungen im Hilfesystem zu erarbeiten, plant das Projekt in einer nächsten Phase die Arbeit in Fokusgruppen, wo obdachlose Menschen intensiv miteinander diskutieren können. Langfristig wolle man auch die qualitative Befragung verstetigen, weil man sehr zufrieden mit der Konzeption sei. »Wir sind auf die Kritik von Betroffenen eingegangen und haben eng mit der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen zusammengearbeitet«, so Kunkat.
Seit die Sozialverwaltung 2020 das erste Mal Zählungen von Obdachlosen im Rahmen der Nacht der Solidarität in Berlin durchgeführt hat, wurde sie dafür von Initiativen immer wieder kritisiert. Zeit für Solidarität will das Konzept der Zählungen einbauen in einen partizipativen Prozess, in dem obdachlose Menschen für sich selbst sprechen können, und eine gegenseitige Kontaktaufnahme zwischen Menschen, die in Wohnungen wohnen, und obdachlosen Personen herstellen.
»Wir wollen Sensibilisierung und Solidarität aufbauen«, sagt Kunkat. Etwa ein Drittel der 207 Befragten habe angegeben, sich weiterhin in der Nachbarschaft vernetzen zu wollen, um »gemeinsam für die Rechte obdachloser Menschen zu kämpfen«. Um dies in Angriff zu nehmen, sei eine Projektgruppe neu gegründet worden, so Kunkat.
Die Ergebnisse aus der qualitativen Befragung werden in dieser Woche gleich in drei verschiedenen Veranstaltungen vorgestellt und diskutiert: Am Mittwoch und am Donnerstag werden Schwerpunkte des Berichts vertieft, einmal die Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen und einmal die Situation von EU-Bürger*innen, die einen deutlich erschwerten Zugang zum Hilfesystem in Berlin haben. Am Dienstag findet eine Kundgebung in Charlottenburg statt, bei der am Projekt beteiligte obdachlose Menschen ihre Forderungen vortragen und den Ergebnisbericht der Befragung vorstellen werden.
Im Anschluss wollen sich dann alle zusammen zum Roten Rathaus begeben, wo zum fünften Mal die jährliche Mahnwache gegen Obdachlosigkeit und Zwangsräumungen bis zum Mittwochmorgen stattfinden wird. »Es wird ganz viele Redebeiträge von selbst betroffenen Menschen geben – und Musik, um die Seele zu erwärmen«, sagt Nicole Lindner vom Bündnis gegen Obdachlosigkeit, das die Mahnwache organisiert, zu »nd«.
Dieses Jahr liegt der Fokus unter anderem auf Leerstand in Berlin, der als Wohnraum für obdachlose Menschen genutzt werden könne. Mit Verweis auf die durch die Sozialverwaltung durchgeführten Zählungen von obdachlosen Menschen sagt sie: »Diese Zählungen bringen kein Zuhause. Man sollte lieber den Leerstand zählen.«
Auch Mitstreiter Steffen Doebert sieht im Leerstand eine direktere Ressource zur Unterbringung wohnungsloser Menschen, als den alleinigen Fokus auf den Neubau zu setzen. »Es wird ja die ganze Zeit gebaut, aber nur für Leute mit prallem Geldbeutel. Vom Geldbeutel darf nicht die Chance auf ein menschenwürdiges Zuhause abhängen«, sagt er zu »nd«.
Das Bündnis gegen Obdachlosigkeit hat auch Katja Kipping (Linke) als Sozialsenatorin und Andreas Geisel (SPD) als Stadtentwicklungssenator zur Mahnwache eingeladen. »Es wäre schön, wenn die beiden ressortübergreifend zusammenarbeiten und Lösungen entwickeln würden«, kommentiert Nicole Lindner. Dafür müssten sie dann auch den Selbstvertreter*innen, die auf der Straße gelebt haben oder aktuell leben, zuhören.
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