- Kultur
- Der Esel in der Filmgeschichte
Grautier, vergib uns unsere Sünden
Ein Blick in die Kinogeschichte zeigt, dass der Esel selten etwas zu lachen hatte
»Etwas Besseres als den Tod finden wir überall!«, davon ist der Esel im Märchen »Die Bremer Stadtmusikanten« überzeugt. Mutig stellt er sich seinem vermeintlichen Schicksal entgegen. Gemeinsam mit Hund, Katze und Hahn, die ebenfalls alt sind und von den Menschen nicht mehr gebraucht werden, zieht er in die Welt hinaus und kann das Leben für sich tatsächlich zum Besseren wenden.
Doch solche Esel-Sozialutopien sind selten. Aktuell geht es den Eseln eher schlecht, zumindest denen auf der Kinoleinwand. So schickt der polnische Altmeister Jerzy Skolimowski seinen titelgebenden Esel in »EO« (2022) auf eine verhängnisvolle Odyssee, die im Schlachthaus endet, und die Eselin Jenny, die der Ire Martin McDonagh in »The Banshees of Inisherin« (2022) seinem Protagonisten an die Seite stellt, verendet tragisch am versehentlichen Fleischfraß. Ist das Zufall? Ein Blick in die Kinogeschichte zeigt, dass es mit dem Esel oft nicht gut geendet ist.
Da wäre zuallererst der Esel Balthazar in Robert Bressons »Zum Beispiel Balthazar« (1966), dem Eselfilm schlechthin. Wir begleiten Balthazar von einer glücklichen Kindheit, in der er vom Mädchen Marie (Anne Wiazemsky) innig geliebt wird, in ein erwachsenes Eselleben voll harter Arbeit und Misshandlungen. In Balthazars Schicksal spiegelt sich jenes von Marie, die durch Armut und den Stolz ihres Vaters in missliche Situationen gerät, von ihrem Liebhaber Gérard (François Lafarge) ausgenutzt und geschlagen wird. Schließlich nimmt sie sich das Leben aus Scham darüber, dass sie vergewaltigt wurde. Balthazar kann als Esel keinen Suizid begehen, wahrscheinlich denkt er auch nicht daran. Von Maries gewalttätigem Ex-Lover wird er zum Schmuggelesel gemacht und stirbt schließlich einen trostlosen Tod, von Schüssen getroffen inmitten einer Schafherde.
Bresson verleiht seinem Esel keine menschlichen Züge, und dennoch wirkt das Tier so, als würde es alles verstehen, das Leid der Welt still in sich aufnehmen und gleichmütig ertragen – gleich einem Sündenbock der Menschheit. Damit verkörpert Balthazar eine der großen Bedeutungen, die dem Esel kulturgeschichtlich zukommt: Schließlich zog, wie etwa die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Jutta Person in ihrer »Esel«-Studie ausführt, Jesus Christus auf einem Esel in Jerusalem ein. Ein friedlicher Fürst auf einem friedlichen Tier: Statt Aggression war nun Demut und Märtyrertum angesagt. (Allein, diese Friedfertigkeit wirkt in Anbetracht der mittelalterlichen Kreuzzüge zu Pferd etwas fehl am Platz. Aber daran trugen ja weder der Heiland noch die Reittiere schuld).
Wie Jerzy Skolimowski dem »Standard« in einem Interview verriet, ist »EO« kein Remake von »Balthazar«, wohl aber eine Hommage. Auf den Esel seien er und Ewa Piaskowa, seine Ehefrau und künstlerische Partnerin, zufällig gekommen: Sie hätten eine Krippenszene in Sizilien besucht, bei der viele Tiere mitspielten. Nur der Esel habe sich dabei zurückgehalten, habe ganz hinten allein gestanden, »bewegungslos und keinen Laut von sich gebend, mit riesigen melancholischen Augen«. Vielleicht ist der Esel also schon aufgrund seiner natürlichen Verhaltensweisen und seines Erscheinungsbilds prädestiniert für die Rolle des Leidenden.
EO, den Skolimowski etwas stärker vermenschlicht hat als Bresson seinen Balthazar, durchläuft im Film wie dieser verschiedene Lebensstationen. Anders als Balthazar lässt er durchaus einigen Widerstand gegen ihm zugefügte Ungerechtigkeiten erkennen, kann sein Schicksal aber letztlich nur bedingt beeinflussen. Nur durch Zufall bleibt er knapp davor bewahrt, zu Eselsalami verarbeitet zu werden, und findet Asyl auf einem malerischen Anwesen mit Pinienbäumen. Doch das ist zu schön, um das Ende zu sein: Sein Retter, ein Adelsspross (Lorenzo Zurzolo), hat sein Geld verspielt, das Anwesen muss verkauft werden. So landet EO letztlich doch auf dem Schlachthof. Kann er dem Tod noch einmal von der Schippe springen? »EO« endet nicht ganz so abgeschlossen katastrophal wie »Zum Beispiel Balthazar«: Ein winziger Hoffnungsschimmer bleibt.
Für Jenny aus »The Banshees of Inisherin« hingegen, die im Gegensatz zu Balthazar und EO immerhin ein wohl annehmbares Eselleben führte, kommt jede Hilfe zu spät, als ihr Besitzer, der Landwirt Pádraic, sie leblos neben seinem Haus findet. Sie fiel ihrer Dummheit und menschlicher Eitelkeit zum Opfer: Gestorben bei dem Versuch, herumliegende Finger zu fressen, die sich Pádraics ehemaliger Freund Colm im Künstlerwahn abgehackt hat, entspricht Jenny ganz dem Klischee eselhafter Borniertheit (welches wohlgemerkt von Tierforschern längst widerlegt wurde).
Tragische Figuren sind auch die Esel in Luis Buñuels Filmen »Ein andalusischer Hund« (1929) und »Land ohne Brot« (1933). Von den beiden Eseln in »Ein andalusischer Hund« bekommen die Zuschauer gar nur die Kadaver zu sehen – auf Konzertflügeln, die vom männlichen Protagonisten durch ein Zimmer gezerrt werden. Eine würdige Totenruhe ist ihnen in diesem surrealistischen Kurzfilm, an dem auch Salvador Dalí mitgewirkt hat, also nicht gegönnt.
Für die Pseudo-Reisedokumentation »Land ohne Brot« musste gar ein echter Esel sterben. Buñuel wollte mit seinem Film das Elend der spanischen Gebirgsregion Las Hurdes für die Welt sichtbar machen, allerdings war ihm die Realität, wie sie sich zeigte, nicht hart genug. Also half er nach. Er inszenierte Gräuelgeschichten, die er von Bauern gehört hatte, unter anderem den Tod eines kranken Esels, der von Bienenschwärmen niedergerungen wird. Buñuel ließ allerdings den Esel am Set erschießen, bevor ihn die Bienen durch ihre Stiche töten konnten. Übrigens war der Esel nicht das einzige Tier, das für besagten Film sein Leben lassen musste.
Mit Tiertötungen für ästhetische Zwecke würde man sich heute als Filmemacher zweifellos sofort ins Aus katapultieren – zumal solche Akte mittlerweile in vielen Ländern durch Tierschutzgesetze verboten sind. So sind für Emir Kusturicas Jugoslawien-Kriegsdrama »On the Milky Road« (2016) dann auch keine echten tierischen Darsteller zu Schaden gekommen, obwohl viele Tiere auf der Leinwand ein schreckliches Ende finden. Das gilt auch für den Esel. Er trägt den Protagonisten Kosta (gespielt von Kosturica selbst) jeden Tag im Kriegsgebiet über feindliche Linien, weil dieser den Soldaten Milch verkauft.
Während sich Kosta und seine »Braut« (Monica Belluci) vorerst noch retten können, stirbt der Esel eines Tages im Kugelhagel. Man kann sich übrigens an Bressons Balthazar erinnert fühlen, wenn die »Braut« wenig später inmitten einer Schafherde in die Luft gejagt wird – allerdings ist die französische Tragödie allemal sehenswerter als Kustoricas misslungene Mischung aus bukolischem Kitsch und blutigem Geballer.
Zwar gibt es natürlich auch Filme, in denen Esel nicht sterben müssen – etwa die spanische Komödie »Mein Liebhaber, der Esel und ich« (2020), das Animationsabenteuer »Shrek« (2001) oder das Defa-Roadmovie »Wie füttert man einen Esel?« (1974) – dennoch bleibt der stoische Einhufer im Film bis dato eine eher tragische Figur.
Das übrigens auch noch in einem anderen Sinne: Im Laufe des letzten Jahrhunderts ist er aus dem Alltag vieler Menschen größtenteils verschwunden. Die Herr-und-Knecht-Beziehung, die Mensch und Esel über Jahrtausende verband, hat sich in vielen Teilen der Welt mit der Industrialisierung der Landwirtschaft aufgelöst. Der Esel wird nicht mehr gebraucht.
Schon bei Bresson hatte der Esel etwas Anachronistisches: »Esel sind schnell und modern«, feixt der spätere Verbrecher Gérard gegenüber Marie und ihrem Vater, die mit einem von Balthazar gezogenen Wagen fahren, während er neben ihnen auf einem Moped sitzt. (Was ihn jedoch nicht davon abhält, den Esel später für seine Schmuggelgeschäfte zu gebrauchen.)
Was kann uns der Esel auf der Leinwand sagen, als ein solches gleichsam ausrangiertes Tier, als ein abhandengekommener Begleiter? Begreifen wir sein Leben als Metapher für unser eigenes, so müssen wir uns vielleicht fragen, ob auch wir keine Bestimmung (mehr) haben und ebenfalls auf ein unschönes Ende zusteuern. Oder ob wir es dem Esel aus »Die Bremer Stadtmusikanten« gleichtun und unser Schicksal wenden können.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.