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Klima-Kippelemente vom Amazonas bis nach Tibet
Die Kipppunkte im Klimasystem beeinflussen sich über Tausende von Kilometern und einige könnten bald überschritten sein
Trocknet der Amazonas-Regenwald aus, hat das Folgen für den ganzen Planeten. Er spielt nicht nur eine entscheidende Rolle im globalen Kohlenstoffkreislauf, er zeichnet sich auch durch einen immensen Artenreichtum aus. Wie der grönländische und der westantarktische Eisschild, die Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC), zu der auch der Golfstrom gehört, und die tropischen Korallenriffe zählt er zu den 16 großen Kippelementen im Klimasystem. Bereits irgendwo zwischen 1,5 und zwei Grad durchschnittlicher Erderwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit erreichen die ersten ihren sogenannten Kipppunkt: Ab da lassen sich die eingesetzten Prozesse nicht mehr aufhalten. So verwandelt sich »die grüne Lunge der Erde« in eine Art Savanne, und die Eisschilde schmelzen unwiderruflich ab. Möglicherweise haben wir – etwa im Fall der absterbenden tropischen Korallenriffe – sogar schon erste Kipppunkte überschritten.
Wie eine jüngst im Fachjournal »Nature Climate Change« veröffentlichte Studie zeigt, sind auch geografisch weit voneinander entfernte Kippelemente stärker untereinander vernetzt als bislang angenommen. Man spricht dabei von sogenannten Telekonnektionen. Zwischen Amazonasbecken und tibetischer Hochebene liegen Tausende von Kilometern und doch beeinflussen sie sich. »Wenn es im Amazonas wärmer wird, wird es auch in Tibet wärmer. Für die Temperaturen gibt es also eine positive Wechselwirkung. Anders ist es beim Niederschlag. Regnet es mehr im Amazonasgebiet, fällt in Tibet weniger Schnee«, fasst der Mitautor Jürgen Kurths vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) den Überraschungsfund zusammen.
Die Forscher*innen entdeckten, dass großskalige Strömungsfelder Temperatur und Niederschlagsfelder nach Tibet transportieren: Starke, von südamerikanischen Antizyklonen – das sind bestimmte Arten von Hochdruckgebieten – angeregte Windströmungen befördern sie nach Südafrika, das afrikanische Monsunsystem treibt sie von dort in den Nahen Osten und Westwinde in die Himalayaregion.
Die Wissenschaftler*innen stellten außerdem fest, dass das tibetische Plateau seit 2008 an Stabilität verliert und sich einem Kipppunkt nähert. »Das wurde bisher übersehen«, sagt Kurths. Anders als beim dortigen Eisvorkommen fehlte es lange Zeit an verlässlichen Daten zur Schneebedeckung der Hochebene. Auch richtete sich der Fokus der Wissenschaft bislang vorrangig auf das Abschmelzen der Pole, die AMOC oder den Amazonas. »Dabei hat das Abschmelzen der Gletscher in Tibet enorme Auswirkungen für das gesamte Monsunsystem Indiens«, erläutert der Komplexitätsforscher am PIK. Trotz seiner abgelegenen Lage ist das tibetische Plateau als Wasserspeicher für das Leben vieler Menschen von großer Bedeutung. Möglicherweise könnten die in Tibet ausgelösten Prozesse sogar den indischen Monsun destabilisieren und verheerende Überschwemmungen auslösen – mit gravierenden Folgen für über eine Milliarde Menschen in der Region.
»Beim Abschmelzen der Pole ist bekannt, dass sie eine Kettenreaktion auslösen«, sagt Kurths. Der hohe Eintrag von Süßwasser in den umliegenden Ozean führt zu einer stärkeren Schichtung, da es über eine geringere Dichte verfügt als das Salzwasser. Normalerweise sinken vor Grönland große Mengen stark abgekühlten Oberflächenwassers in die Tiefe, weil sie schwerer sind als das darunterliegende Wasser, und fließen von dort als sauerstoffreiches Boden- oder Tiefenwasser Richtung Äquator zurück. Der Süßwassereintrag hemmt diesen Prozess und schwächt damit die AMOC. Die Erkenntnis, dass auch Amazonasbecken und Tibet klimatisch miteinander verbunden sind, ist dagegen neu. Darüber, wie sich Kippelemente gegenseitig beeinflussen, wird derzeit intensiv geforscht. Verstärken sie sich, wie in diesem Fall, so bedeutet dies, dass die Menschheit noch schneller auf eine Katastrophe zusteuert als bislang angenommen.
Bereits der 1,5 Grad-Sonderbericht des Weltklimarats (IPCC) aus dem Jahr 2019 warnt eindringlich davor, die Temperaturmarke von 1,5 Grad zu überschreiten. »Jede weitere Erwärmung, besonders über 1,5 Grad hinaus, vergrößert die Gefahr lang anhaltender oder nicht mehr umkehrbarer Veränderungen wie etwa den Verlust von Ökosystemen«, zitierte »Die Zeit« Klimaforscher und IPCC-Mitglied Hans-Otto Pörtner.
Schon bei einem zeitweiligen Überschreiten der 1,5- oder Zwei-Grad-Marke erhöht sich das Risiko, dass mehrere Elemente des Erdsystems kippen, im Vergleich zu einem Szenario, in dem die Temperaturen unterhalb dieser Grenze bleiben, um über 70 Prozent. Zu diesem Schluss kommen Nico Wunderling vom PIK und Kolleg*innen in einer im Dezember im Fachjournal »Nature Climate Change« publizierten Risikoanalyse. »Selbst wenn es uns gelänge, die globale Erwärmung nach einer Überschreitung von mehr als zwei Grad auf 1,5 Grad zu begrenzen, würde dies nicht ausreichen, da das Risiko, einen oder mehrere globale Kipppunkte auszulösen, immer noch mehr als 50 Prozent betragen würde«, so Wunderling.
Das Forscher*innenteam nutzte verschiedene Szenarien, in denen die globale Durchschnittstemperatur vorübergehend zwei bis vier Grad höher lag als vor der Industrialisierung. Diese wandte es auf vier interagierende Kippelemente an: den grönländischen und den westantarktischen Eisschild, die AMOC und den Amazonas-Regenwald. Als besonders verletzlich erwiesen sich die Eisschilde. »Während es lange dauern würde, bis sich der Eisverlust voll entfaltet, könnten die Temperaturniveaus, bei denen solche Veränderungen ausgelöst werden, schon bald erreicht sein«, sagt Mitautorin Ricarda Winkelmann, ebenfalls vom PIK. »Unser Handeln in den kommenden Jahren kann also über die zukünftige Entwicklung der Eisschilde für Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende entscheiden.«
Tatsächlich ist diese im Falle des grönländischen Eisschilds schon weiter fortgeschritten als gedacht: Maria Hörhold vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) und ihr Team belegen in einer Anfang des Jahres in »Nature« veröffentlichten Studie, dass es in Nord- und Zentralgrönland in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts so warm war wie die letzten 1000 Jahre nicht. »Die Erwärmung in der Phase zwischen 2001 und 2011 setzt sich eindeutig von natürlichen Schwankungen der letzten 1000 Jahre ab. Das haben wir angesichts der globalen Erwärmung zwar befürchtet, aber die Eindeutigkeit und Prägnanz ist unerwartet«, sagt die Glaziologin.
Das über 3000 Meter hohe grönländische Eisschild mit einem Volumen von rund drei Millionen Kubikkilometer spielt eine zentrale Rolle im globalen Klimasystem. Stoßen wir weiter so viele Treibhausgase aus wie heute, könnte seine Schmelze den Meeresspiegel bis Ende des Jahrhunderts um 50 Zentimeter heben.
Auch die Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes schreitet schnell voran. David Lapola von der brasilianischen Universidade Estadual de Campinas und sein Team kommen in einer aktuellen Studie in »Science« zu dem Ergebnis, dass bereits 2,5 Millionen Quadratkilometer durch Feuer, Landnutzungsänderung, Abholzung oder extreme Dürre degradiert sind. Die betroffenen Gebiete sind heute trockener und damit entflammbarer und verletzlicher als vorher, warnen die Autor*innen. Kurths sieht seinerseits die Hauptgefahr für den Amazonas in seiner Fragmentierung. »Damit ist der gesamte Regenwald bedroht«, sagt er.
Besondere Sorgen machen ihm aber die sozialen Kipppunkte infolge des Klimawandels: So könnte der steigende Meeresspiegel Millionen von Menschen in den Küstenmetropolen in die Flucht treiben. Ein sofortiges Umsteuern seitens Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ist dringend geboten.
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