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Naturkräfte zum Nulltarif
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik über Klimakatastrophe und Kapital bei Karl Marx
Vor 156 Jahren erschien der erste Band des wissenschaftlichen Hauptwerks von Karl Marx. Sein Untertitel, »Der Produktionsprozeß des Kapitals«, hat einen Doppelsinn. Darauf weist der Philosoph Wolfdietrich Schmied-Kowarzik in seinem kürzlich erschienen Buch »Solidarische Praxis in Allianz mit der Natur« hin: Es geht nicht nur um die industriekapitalistische Herstellung von Waren, sondern auch um die permanente Selbst-Reproduktion der Produktionsverhältnisse. Deren Formation ist in sich widersprüchlich, aber veränderungsresistent. Es gibt kein Entrinnen aus ihr. »Die ›in Gesellschaft handelnden Individuen‹ werden in ihrer produktiven Tätigkeit bestimmt durch den angesammelten Wert vergegenständlichter Arbeit, der sich in der Verfügungsgewalt einzelner Individuen befindet«, schreibt Schmied-Kowarzik, »denn nichts anderes ist das Kapital. In dieser Verkehrung, dass die gesellschaftlich produzierenden Individuen vom Produkt menschlicher Arbeit beherrscht werden, liegt der grundlegende Widerspruch der kapitalistischen Gesellschaftsformation.«
Vor 40 Jahren wurde, auch in der BRD, in akademischen Kreisen und in den Feuilletons an den 100. Todestag von Marx erinnert. Man schrieb das Jahr 1983. Atomkriegsgefahr und Naturzerstörung waren Themen öffentlicher Debatten. Im politischen Kontext nahm sich eine junge Partei ihrer an. Die Grünen waren noch nicht olivgrün; ihre Wurzeln hatten sie allerdings auch in braun-grünen Milieus. Dort wähnte man deutschen Wald und deutschen Boden durch »raffendes Kapital« in Gefahr. Und dass im Ernstfall nicht der deutsche Souverän auf den roten Knopf zum Atomraketenstart drücken dürfte, sondern nur »der Ami«, kränkte die Eigenliebe.
Es gab aber auch – man glaubt es kaum – radikale Linke und Marxisten bei den Grünen. Doch im Großen und Ganzen kultivierte die Alternativbewegung »ihre Berührungsangst vor jeder philosophischen Analyse«; sie belegte »die Marxsche Theorie mit einer erneuten Tabuisierung«, wie Wolfdietrich Schmied-Kowarzik 1983 beobachtete. Hatte Marx nicht den Menschen aus dem Naturzusammenhang herausgelöst, weil er die industrielle Revolution durch eine revolutionäre Bewegung der Industriearbeiterinnen und -arbeiter vervollständigen wollte? Sozialistische Naturbeherrschung als atomgetriebene Industrieproduktion im Volkseigentum: Dass diese politische Herrschaftsideologie mit der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie nichts gemeinsam hat, wurde von vielen nicht gesehen – in Westdeutschland nicht anders als in der DDR.
Jene radikalen Linken wussten aber – vor Tschernobyl und vor dem Kollaps des Ostblocks, der im mikroelektronischen und militärischen Wettlauf mit dem westlichen Kapitalismus nicht mehr mithalten konnte: Innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse kann die Ausbeutung von Naturressourcen, also unserer Lebensgrundlagen, genauso wenig gestoppt werden wie die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Im Gegenteil: Beide Enteignungsweisen müssen ständig intensiviert werden, damit die Verwertung des Werts und die Akkumulation von Kapital, das sogenannte Wirtschaftswachstum, nicht ins Stocken gerät. Ein ökologisch verantwortlicher, grüner Kapitalismus ist ein in sich widersprüchliches Hirngespinst, er kann kein vernünftiges Ziel politischer Praxis sein.
Wenn »die Arbeit und die Natur« der »Wertlogik des Kapitals« unterworfen werden, gelten aber gleichwohl verschiedene Maßstäbe, hebt Schmied-Kowarzik in einem Aufsatz von 2018 hervor. »Marx arbeitet in der Kritik der politischen Ökonomie heraus – was […] nur wenige marxistische Theoretiker erkannt haben –, dass das Kapital gemäß der Logik seines Wertgesetzes sich gegenüber Arbeit und Natur unterschiedlich verhält. Denn während das Kapital allen Wert aus der Arbeitskraft zieht und dadurch zur Negation der arbeitenden Menschen wird, behandelt es die Natur in dreifachem Sinne als ›wertlos‹: Für das Wertgesetz liegen die Naturgüter als Produktionsmittel einfach zum Nulltarif vor, die Naturkräfte (Wasserkraft, Wind und Sonnenenergie) fügen dem kapitalistischen Verwertungsprozess kein ›Gran Wert‹ hinzu und was von ihnen als Abfall zurückbleibt, wird der Natur wieder sorglos rückübereignet. Als ökologische Prozessualität kann die Natur in der Wertakkumulationslogik des Kapitals nicht vorkommen – daraus erwächst die Negation der Natur, deren Folgen wir erst seit einigen Jahrzehnten in ihrem ganzen Ausmaß zu spüren bekommen und zu begreifen beginnen.«
Heute hängt das gesellschaftliche Leben – unter den Bedingungen des Weltmarkts und der Geopolitik – von der permanenten Selbst-Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ab. Solange das Wertgesetz weltweit in Kraft ist, gibt es für die menschliche und die außermenschliche Natur kein Entrinnen aus den spezifischen Zwängen der Ausbeutungslogik. Deren Geschäftsgrundlage ist ja die Abwendung der Verwertungskrisen durch erweiterte und neue Akkumulationsregimes. Wenn nicht immerzu Neues in den Verwertungsprozess hineingezogen werden kann, drohen Stillstand, Rückgang und Kollaps des Wirtschaftssystems. Es wäre also höchste Zeit, dass die Klimaprotestbewegung ernst macht damit, was der deutsche Inlandsgeheimdienst derzeit nur behauptet: dass sie sich in der Breite für radikal linke politische Gedanken öffnet.
Schmied-Kowarzik schließt sich nicht den werttheoretischen Marx-Lektüren an, in denen die krisenhafte Struktur der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als hermetischer Zusammenhang dargestellt wird und ein Ende nur als kompletter Zusammenbruch denkbar erscheint. Er vermisst hier die Handlungsperspektive. Die rein werttheoretische Marx-Lektüre würde »versuchen, Marx allein von seinem Spätwerk, der Kritik der politischen Ökonomie, her zu deuten und […] einen Rückbezug auf die philosophischen Frühschriften von Marx für überflüssig« halten. Dabei gehe aber »die eigentliche Pointe der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verloren, nämlich im Verfolg der Wertlogik des Kapitals aufzuweisen, dass diese strukturell die Negation der arbeitenden Menschen und der Natur betreibt, obwohl sie doch ohne beide nicht zu sein vermag. Diese Argumentation ex negativo ist als Kritik nur deshalb möglich, weil sie – wie Marx in seinen philosophischen Frühschriften […] herausgearbeitet hat – selbst in der gesellschaftlichen Praxis gründet und sich als ein Moment im Dienste der emanzipativen Praxis versteht, durch die die arbeitenden Menschen die Negativität der wertökonomischen Logik des Kapitals durchschauen und deshalb vereinigt durchbrechen können.« Das leuchtet ein – gleichwohl wäre mir wichtig, daran zu erinnern, dass wir ohne die Arbeiten aus der Schule der Wertkritik (Hans-Georg Backhaus, Michael Heinrich) heute wohl kaum einen adäquaten Krisenbegriff hätten.
Für seine praxisphilosophische Perspektive knüpft Schmied-Kowarzik an Ernst Bloch, Herbert Marcuse und Henri Lefebvre an. Bloch ist ihm nicht zuletzt wegen der unorthodoxen Vergegenwärtigung von Friedrich Schelling wichtig. Seit den frühen 1980er Jahren hat Schmied-Kowarzik immer wieder nachgewiesen, dass dessen Naturphilosophie zu Unrecht als Dokument des naturwissenschaftsfeindlichen Irrationalismus der Romantik gilt (wie Georg Lukács behauptete). Ohne Schelling wäre nämlich nicht zu verstehen, »dass die produktive Tätigkeit, die gesellschaftliche Praxis, nicht nur tätige Negation der Natur ist, sondern dass sie darin zugleich ein Teil der Produktivität der Natur selbst bleibt, dass die Geschichte als Gestaltung der Welt durch die Menschen zugleich immer Teil der sie übergreifenden Naturgeschichte ist, die in und durch den Menschen als Gattungswesen zu einem bewussten produktiven Verhältnis zu sich selbst kommt«. Von Schelling ist Grundsätzliches über die Natur zu lernen: »Natur ist nicht nur das, was aller menschlichen Tätigkeit vorausliegt und gegenübersteht, sondern auch das, was in und durch sie lebendig fortwirkt. So darf das Bewusstwerden der Menschen, dass sie es sind, die durch gesellschaftliche Praxis Geschichte machen, nicht von der Einsicht abgetrennt werden, dass sie dies nur können im Einklang mit der in ihnen selbst wirksamen Produktivität der Natur.«
Wer die Aufsätze dieses Bandes liest, bekommt ein Bild davon, wie der Autor seit 50 Jahren als Hochschullehrer in Vorlesungen und Seminaren sowie, unermüdlich, auf Fachkongressen argumentiert. Begrifflich klar und thesenstark, dabei unaufgeregt und unprätentiös führt Schmied-Kowarzik vor, wie sich die radikale Kritik bestehender gesellschaftlicher Zustände und Praxisformen aus der philosophischen Tradition heraus darlegen und begründen lässt. Sein Werk ist ein lebendiger Beweis dafür, was er im Anschluss an Lefebvre betont: »Der kapitalistische Systemzusammenhang kann zwar immer enger, fester und bedrückender werden, aber er kann doch niemals die eigentlichen lebendigen Zentren menschlicher Praxis völlig in sich aufsaugen, ohne dabei seine eigene Daseinsgrundlage zu zerstören.« Das gilt eben auch für die Praxis des Begriffs und der philosophischen Kritik.
Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Solidarische Praxis in Allianz mit der Natur. Marx’ dialektische Praxisphilosophie für das 21. Jahrhundert.
Westfälisches Dampfboot, 205 S., geb., 25 €.
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