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Warum brennt die Schule?
Zwei nordrhein-westfälische Religionslehrer*innen im Gespräch über ein Bildungswesen, das in der Sackgasse steckt
In meiner Schulzeit haben wir die Schule kritisiert, weil sie uns auf die Arbeitswelt zurichtet. Wir mussten in Reih und Glied vor dem Lehrer sitzen, gelehrt wurde frühes Aufstehen und Gehorsam. Die Aufteilung der Grundschüler*innen in verschiedene weiterführende Schulen entscheidet auch heute noch über ihren weiteren Lebensweg in der Klassengesellschaft. Ist dieses – zugegeben einfache – Denken aus den 70er/80ern heute noch zeitgemäß?
Andreas Hellgermann ist Lehrer an einem Berufskolleg in Münster. Ulla Wigger arbeitet als Grundschullehrerin an einer Schule im Münsterland.
Beide sind aktiv im Arbeitskreis Religionslehrer*innen am Institut für Theologie und Politik in Münster (ITP). Der Arbeitskreis trifft sich regelmäßig und veranstaltet Seminare oder wird zu Vorträgen eingeladen. Darüber hinaus veröffentlicht er Texte zu religions- und bildungspolitischen Fragestellungen. Im Kontext des ITP ist er einem befreiungstheologischen Ansatz verpflichtet, Gesellschaft zu begreifen, Herrschaftsverhältnisse infrage zu stellen und solidarische Alternativen zu entwickeln. Ein aktueller Arbeitsschwerpunkt ist die Digitalisierung von Schule und Bildung. Der Arbeitskreis hat die Broschüre »Die Schule brennt« herausgegeben, die über die Mailadresse relilehrer@itpol.de gegen einen Unkostenbeitrag bestellt werden kann.
Wigger: Na ja, auch wenn sich Schule seitdem sicherlich verändert hat, sind das frühe Aufstehen und auch ein gewisses Maß an Gehorsam heute noch Voraussetzungen für die Teilnahme am Bildungssystem. Auch die Selektion am Ende der Grundschule ist geblieben und sorgt dafür, dass meine Kolleg*innen und ich als Grundschullehrer*innen mit Eltern und Kindern einen Streit ausfechten müssen, der mit Bildung erst mal gar nichts zu tun hat, sondern, wie Sie sagen, ein arbeitsmarktpolitischer Konflikt ist.
Hellgermann: Hier zeigt sich schnell, dass die Schule immer noch auf das kapitalistisch organisierte Arbeitsleben vorbereitet, aber nicht mehr so wie in Ihrer und meiner Schulzeit. Die Disziplin ist eine andere geworden. Oder man könnte mit dem französischen Philosophen Michel Foucault sagen: Wir leben nicht mehr in der Disziplinargesellschaft, sondern in einer Kontrollgesellschaft, in der auf eine neue Weise auf die Subjekte eingewirkt wird, in der sie anders geformt werden. Das geht auch nicht ohne Kontrolle. In diesem Sinne könnte Employability, also die Arbeitskraftverwertungsfähigkeit des Subjektes, in noch viel stärkerem Maße die Schule bestimmen. Was die angesprochene Zurichtung angeht: Mittlerweile erwartet und provoziert die Schule ein viel größeres Einverständnis der Schüler*innen in diese Zurichtung.
Was sind die Gründe für diese Veränderungen?
Hellgermann: Wir haben am Ende des 20. Jahrhunderts erlebt, wie die Zeit des Fordismus, der Arbeit in der Fabrik, zumindest in den kapitalistischen Zentren des Nordens, zu Ende ging und damit eben auch neue Arbeitsformen entstanden sind. Die idealen Arbeitskräfte sind heute die Selbstunternehmer*innen des neoliberalen Kapitalismus. Und darauf hat auch die Bildung geantwortet. Um das Jahr 2000 wurde von allen Seiten ein »Paradigmenwechsel« gefordert. Der ist dann zwar nicht sofort in die Schulen eingezogen, aber hat doch recht weitgehende Veränderungen angestoßen. Das Stichwort hierzu war: von der Inhalts- hin zur Kompetenz- und Handlungsorientierung. Natürlich müssen Schüler*innen heute immer noch Wissen pauken – und manchmal sogar mehr denn je –, aber die Vorstellung, was Kompetenz bedeutet, ist vielmehr, in einer gegebenen Situation flexibel handlungsfähig zu sein. Oder, wie das immer so schön heißt, eine Situation bewältigen zu können. Da klingt sofort Employability durch!
Frau Wigger, wie zeigt sich die Neoliberalisierung in der Schule?
Wigger: Am deutlichsten kann man die Neoliberalisierung des Bildungswesens vielleicht an diesem Begriff der »Kompetenz« verdeutlichen. Setzte man sich in den 80er Jahren noch schulische Lernziele, gilt es jetzt für Schüler*innen, Kompetenzen zu erlangen. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass eine Kompetenz, wie Andreas schon gesagt hat, erlernt wird, um eine Situation zu bewältigen. Sie dient aber nicht dazu, die Situation zu hinterfragen oder sie gar zu verändern. Und so festigen wir mithilfe einer instrumentellen Vernunft das, was ist. Unser Bildungssystem ist auf diese Weise gar nicht in der Lage, Menschen zu ermutigen, wirklich kreativ das ganz Neue, Andere zu denken, und will das auch gar nicht.
Wie ist es also heute um die Bildung bestellt?
Hellgermann: Hm, nicht so gut, würde ich erst mal sagen. Das sehen ja sogar die Bildungsverantwortlichen in den Regierungen so. Ihnen bleibt nicht verborgen, dass durch all diese Veränderungsprozesse auch etwas verloren geht. Selbst die Kompetenzen, die eigentlich ausgebildet werden sollen, kommen zu kurz: Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten und vieles mehr. Auch viele Schulleiter*innen an Berufskollegs beklagen sich darüber, dass in einer Berufsschulklasse die Grundrechenarten nicht mehr beherrscht werden. So sehr das eben auch stimmt, wäre das für mich nicht der entscheidende Punkt. Viel grundlegender ließe sich sagen, dass Bildung immer mehr auf rein funktionale »Bildung« reduziert wird und im zweiten Schritt dann auch grundlegende funktionale Fähigkeiten auf der Strecke bleiben. Das bedeutet für uns jetzt nicht, dass wir das alte Humboldt’sche Bildungsideal aus der Tasche ziehen wollen. Es bedeutet aber schon, dass eine Kategorie wie Kritik entsorgt wird, dass emanzipatorische Aspekte keine Rolle spielen und Autonomie und Solidarität als bedeutsame Begriffe in Lehrplänen nicht mehr vorkommen. Aber so sollte es nicht sein!
Hat Corona auch dazu beigetragen?
Wigger: Ja, Corona hat insbesondere die Digitalisierung an Schulen massiv vorangetrieben. Hierbei macht uns nicht die Verbesserung der technischen Ausstattung an Schulen Sorgen, sondern das pädagogische Heilsversprechen, das in allen politischen Lagern mit der Digitalisierung verbunden wird. Das, was oft Revolutionierung von Unterricht durch Digitalisierung genannt wird, führt zum genauen Gegenteil: Der Computer, also das Instrument, das die Bildungsbeteiligten unterstützen soll, wird selbst zum Inhalt. Es wird absolut gesetzt, sodass die wirklichen Bildungsfragen – nämlich: »Wie schaffen wir eine gerechtere Welt?« – gar nicht mehr in den Blick kommen. Außerdem zeigt die Arbeit mit den Tablets schon in der Grundschule sehr deutlich, wie die Erfahrung junger Menschen vom konkreten Anfassen, vom sinnlichen Wahrnehmen hin zum zweidimensionalen Wischen verkommt und jedes Kind individualisiert mit seinem Tablet an seiner eigenen Selbstoptimierung arbeitet.
Was muss sich ändern, damit das Bildungssystem dazu beitragen kann, dass Schüler*innen zu kollektiv denkenden, mutigen, kritischen und solidarischen Menschen werden? Nennen Sie mal konkrete Beispiele, bitte.
Wigger: Zuerst einmal muss Bildung von Beurteilung getrennt werden, eigentlich eine sehr alte Forderung. Kinder im Grundschulalter lernen ja nicht, weil sie dafür benotet werden, sondern weil sie neugierig sind. Ließe man sie ihre Themen in ihren Zusammenhängen lernen und bearbeiten, ohne sie sofort dieser Urteilsmaschinerie zu unterwerfen, könnten ganz neue Dinge passieren, die uns wahrscheinlich sehr überraschen würden.
Hellgermann: Ich würde dann sagen, wir müssen auf jeden Fall für eine andere Idee von Bildung, für eine umfassende Idee von Bildung kämpfen, die Schüler*innen nicht darauf zurechtstutzt, Träger einer zu verwertenden Arbeitskraft zu sein. Uns ist wohl bewusst, dass das nicht einfach mehrheitsfähig ist. Trotzdem ist es eine Notwendigkeit.
Wie zeigt sich die ökologische Katastrophe, von der Sie in Ihrem Manifest schreiben, in der Schule?
Hellgermann: Auch wenn es tragisch ist, müssen wir erst mal konstatieren, dass die ökologische Katastrophe, in der wir stecken, noch längst nicht zu einer pädagogischen Herausforderung geworden ist. Anders formuliert: Kaum jemand hat verstanden, dass man auch in der Schule nicht auf die Mittel des Status quo – also die Mittel, die in die Katastrophe geführt haben – zurückgreifen sollte, um diesen Status quo zu überwinden. Ohne eine andere Idee von Bildung wird das nicht gehen. Denn dann bleibt man an der Stelle stehen, an der auch die Grünen stehen, die auf einen Green New Deal und damit auf ein kapitalistisches »Weiter so« setzen. Sie sind ein aktuelles Beispiel für die Sackgasse, in der auch die Schule steckt. Anders als bei der grünen Partei ist aber bei vielen Schüler*innen angekommen, dass das ökonomische Dauerwachstumsmodell schon längst an seine Grenzen gestoßen ist. Doch jetzt kommt die Schule und predigt, dass jeder doch bei sich selbst anfangen muss. Und dass es technokratische Lösungen gibt, die man sich dann in den einzelnen Fächern anschaut. Stattdessen geht es um sehr tiefgreifende Veränderungen und damit um die Frage, welche Rolle dabei eigentlich die Bildung spielt!
Seit Fridays for Future gehen Schüler*innen wieder vermehrt auf die Straße. Sind heute die Schüler*innen die lebendige Negation und Anklage der Verhältnisse, die Sie kritisieren?
Wigger: Das, was Fridays for Future überhaupt so groß gemacht hat, war die Weigerung – zuerst von Greta Thunberg, danach von vielen anderen Schüler*innen – am Freitag ihrer Schulpflicht nachzukommen. Ohne diese Regelverletzung hätte es gar nicht solch eine große Öffentlichkeit gegeben. Die Rolle von Schule ist an diesem Beispiel wunderbar aufzuzeigen: Vielleicht haben wirklich viele Schüler*innen im Unterricht Hintergründe für die Klimakatastrophe erfahren. Vielleicht sind sie dort für das Thema sensibilisiert worden. Wir hoffen es. Aber als sie das Thema ernst genommen haben, mussten sie das System Schule verlassen, mussten es boykottieren, um gehört zu werden.
Was können Lehrer*innen zu einer anderen Bildung beitragen?
Wigger: Schule spiegelt immer die Gesellschaft wider, der sie verhaftet ist. Eine andere Bildung ist nicht ohne eine andere Gesellschaft zu haben und umgekehrt. Diese Verkettung und all ihre Widersprüche erfahren Kinder schon im Grundschulalter jeden Tag. Ein wichtiger Schritt für uns als Lehrer*innen ist es, die Widersprüche gemeinsam mit den Kindern aufzudecken und zu benennen. Das ist der erste Schritt in Richtung Widerstand. Und es sollte uns dabei klar sein, dass wir Lehrer*innen nicht diejenigen sind, die es besser wissen. Wenn überhaupt, können wir nur in einem Dialog mit unseren Schüler*innen weiterkommen. Genau das hat der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire gewusst. Und deshalb wäre es gar nicht schlecht, seinen Ansatz wieder aus der Tasche zu holen.
Ihre Publikation, die mit einem Manifest endet, ist mit Zitaten unterlegt. Für das letzte Zitat geben Sie keine genaue Quelle an. Ich kenne »Bildet Banden« aus einem Diskussionstext der Autonomen Anfang der 80er Jahre. Viele trugen damals schwarze Kapuzenpullis mit diesem Spruch unter einem Foto von Inger Nilsson, der Schauspielerin in den Pippi-Langstrumpf-Filmen. Aber woher kommt dieses Zitat ursprünglich?
Hellgermann: Ehrlich: Wir wissen es auch nicht. Leider! Wir finden aber, dass dieses Zitat immer noch etwas sehr Wichtiges auf den Punkt bringt. Denn wir wollen auf jeden Fall – selbst wenn das manche überrascht – auch als Religionslehrer*innen unseren Beitrag dazu leisten, dass sich solche Banden bilden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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