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Vergangenheit wird Gegenwart
Plattenbau. Die CD der Woche: »Jahre« von den Kastrierten Philosophen
Erinnert sich hier noch wer an die Kastrierten Philosophen? Nein, dabei handelt es sich nicht um eine Fun-Punk-Band, wie der Name nahelegen würde. Vielmehr war die zwischen 1981 und 1997 aktive Band aus Verden (bei Bremen) bekannt für einen wilden Mix aus düsterem Shoegaze, Psychedelic, Electronica, Dub, Folk und Pop.
Verkehrt ist die Punk-Assoziation gleichwohl nicht. Denn bevor Sängerin Katrin Achinger und Multiinstrumentalist Matthias Arfmann die Band gründeten, waren sie Ende der 1970er Jahre in verschiedenen Punkformationen aktiv. Ihre spätere musikalische Entwicklung führt retrospektiv einmal mehr vor Augen, welch kreativ-explosives Konglomerat jener Teil der frühen, experimentellen Punkbewegung darstellte, für den das übliche Drei-Akkorde-Geschrammel nicht Ziel, sondern bloß Ausgangspunkt einer weitreichenden musikalischen Expedition sein sollte. Später wurde dafür der schwammige Begriff »Post Punk« erfunden, der alles von The Birthday Party bis Orange Juice subsumierte.
Elf Alben produzierte das Duo, das auch privat liiert war, bis Mitte der 1990er Jahre. Mit dem Ende der Ehe war zugleich auch das Ende der Band besiegelt. Achinger konzentrierte sich dann auf ihre Solokarriere, während Arfmann zu einem gefragten Produzenten und Manager (u. a. von Jan Delay) wurde.
Die Kastrierten Philosophen existierten seitdem nur noch als Erinnerung jener kleinen Fanschar, die ein Faible für gleichermaßen verschrobene wie düstere Indiemusik pflegt. Doch mit der reinen Musealisierung ist nun Schluss: Denn die Vergangenheit hat sich durch die wiederaufgenommene Zusammenarbeit von Arfmann und Achinger ihren Weg in die Gegenwart gebahnt.
»Jahre« heißt eine Compilation, die von den beiden Band-Protagonisten zusammengestellt und klanglich restauriert wurde. Neben 15 bereits auf den regulären Studioalben enthaltenen Stücken sind mit »Time« und »Jahre« zudem zwei gänzlich neue Songs enthalten, die qualitativ im Vergleich zum Rest in keiner Weise abfallen und die zugleich die Hoffnung nähren, dass zukünftig Weiteres von der Band zu erwarten sein könnte.
Einmal mehr verdeutlicht die Zusammenstellung, welch irre musikalischen Wendungen die Band in ihrer Laufbahn immer wieder vollzogen hat. War etwa das 1988er-Album »Nerves« noch ein für seine damalige Zeit vergleichsweise klassisches Indie-Album, war das zwei Jahre später erschienene »Leipzig D.C.« stark geprägt von der damals populär werdenden Dance- und Clubkultur. So folgt auf ein Reggae-beeinflusstes Stück wie »P.C.« aus dem Jahr 1997 der neun Jahre zuvor veröffentlichte Song »Never Be Kind«, der mit seiner melancholisch-sehnsuchtsvollen Atmosphäre auch der Spätphase von The Velvet Underground entstammen könnte.
Ohnehin war die legendäre Band um John Cale und Lou Reed gerade in der Frühphase ein wichtiger Bezugspunkt der Kastrierten Philosophen, wie auch Songs wie »Do I Know You« oder »Love Factory« – schwang da etwa eine Warhol-Assoziation mit? – vom gleichnamigen Debütalbum offenbaren. Nicht zuletzt deshalb muss für die Band 1985 ein Traum in Erfüllung gegangen sein, als sie angefragt wurden, die sagenumwobene Nico auf ihrer Europa-Tournee zu supporten.
Anders als Nico, die sich zeitlebens in den düsteren Gefilden der Musik bewegte, haben die Kastrierten Philosophen mit ihrem Œuvre sowohl Licht als auch Schatten vertont und damit ein außerordentlich vielschichtiges Werk hinterlassen. Die Veröffentlichung von »Jahre« ist eine gute Gelegenheit, sich der Bedeutung dieser Band nach 25-jähriger Abstinenz wieder bewusst zu werden.
Kastrierte Philosophen: »Jahre« (About Us Records / Cargo)
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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