Wenn die Lüge zur Wahrheit wird

Zwei Neuerscheinungen zu Krieg und Rüstungswahn, Nato, Russland, Ukraine und Deutschland

  • Lothar Schröter
  • Lesedauer: 7 Min.
Skulptur »Non Violence« von Carl Fredrik Reuterswärd vor dem Uno-Hauptquartier in New York
Skulptur »Non Violence« von Carl Fredrik Reuterswärd vor dem Uno-Hauptquartier in New York

Die beiden hier vorzustellenden Bücher könnten nicht aktueller sein. Leider. Sie befassen sich mit den Ursachen und dem Charakter des Krieges in der Ukraine sowie den Zielen der beteiligten Seiten. Oskar Lafontaine erinnert im Vorwort des von Wolfgang Gehrcke und Christiane Reymann herausgegebenen Bandes an George Orwell: »Wenn alle anderen die … verbreitete Lüge glaubten …, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde zur Wahrheit.« Lafontaine, der dabei sicher auch an Die Linke dachte, schließt an, das »ist der Grund, aus dem sich seit Jahren in der Friedenspolitik engagierte Autorinnen und Autoren zusammengetan haben, um dieses Buch zu veröffentlichen«.

18 namhafte Autorinnen und Autoren gehen mehr oder minder deutlich die aufgeputschten »Erklärungen« zum Nato-Ukraine-Krieg an. Sie fragen, welchen Part die Bundesrepublik Deutschland zum Anheizen des Waffengangs in der Ukraine durch die rosa-olivgrün-gelbe Regierung in Berlin spielt. Zu Recht stellen die Herausgeber fest, dass die sogenannte Zeitenwende nicht nur im Verhältnis der Staaten zueinander vollzogen wurde, »sondern auch innenpolitisch im Verhältnis der Klassen und Schichten zueinander«. Dabei seien »diese Veränderungen, anders als behauptet, nicht ursächlich auf den Krieg zurückzuführen …« Richtungsänderungen zum Sozialstaat oder im gesellschaftlichen Bewusstsein hätten sich schon vorher abgezeichnet. Die Wirtschaftskrise in Verbindung mit der angelaufenen Hoch- und Überrüstung und der Zerrüttung des Finanzsystems laufe jedoch auf eine Systemkrise bisher nicht gekannten Ausmaßes hinaus. Die Reaktionen des bürgerlichen Staates darauf bedeuten eine weitgehende Aufgabe des grundgesetzlichen Sozialstaatsgebotes und eine gewollte Uniformierung des Denkens.

Über den Durchgriff des Staates und zunehmende Militarisierungsbegeisterung sowie einen gegen »Sozialschmarotzer« stromlinienförmig angepassten Medienapparat werde der »Wohlstandskapitalismus« à la Ludwig Erhard begraben. An die Stelle der bürgerlichen Demokratie soll die schon (auch von Erhard) in den 60er Jahren geforderte »formierte Gesellschaft« durchgesetzt und die (allerdings schon immer nur relative) militärische Zurückhaltung zugunsten der von Kanzler Konrad Adenauer bereits Anfang der 1950er Jahre perspektivisch verlangten Wiederherstellung der deutschen Großmachtrolle über Bord geworfen werden. Deutschland wird wieder zu einem klassisch kapitalistisch-imperialistischen Staat.

Weitere Beiträge spannen den Bogen von der schamlosen Prostituierung der Mainstream-Medien – der unter anderem für öffentlich-rechtliche Sender tätige Journalist Thomas Leif meint: »Unabhängiger Journalismus ist zum Mythos geworden.« – über die inhaltlich und personell verludernden Bündnisgrünen bis hin zur katastrophalen inneren Verfasstheit der heutigen Ukraine (höchste Militärausgaben, niedrigste Löhne, Verelendung, Schmuggel, Korruption, Nationalismus und Neofaschismus). All dies geht in der öffentlichen Debatte unter – und müsste doch von allerhöchstem Interesse sein, gerade auch für Nato-Versteher bis hinein in die obersten Gremien der Linken. Sevim Dağdelen, zweifellos eine der klügsten Linkspolitikerinnen im Bundestag, bringt die Kriegsziele des »Wertewestens« auf den Punkt: »Russland ruinieren und China vernichten.« Im Unterschied zu anderen zögert sie nicht, die Politik der Nato als das zu bezeichnen, was sie war und ist: die eigentliche Verursacherin der zweiten Phase des Krieges in der Ukraine ab Februar 2022.

Für John P. Neelsen von der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist der Ukraine-Konflikt ein »Bürgerkrieg, regionaler Nachfolgekrieg, Hegemonialkrieg«. Mit einer Nato-Mitgliedschaft des Landes »würde eine neue Qualität im geopolitischen Kräfteverhältnis erreicht« werden. Ein militärischer Enthauptungsschlag gegen Russland würde möglich. Für Moskau wäre dies eine existenzielle Bedrohung. Kein Staat der Welt, erst recht nicht eine Großmacht, kann Derartiges ignorieren. Der Ukrainekonflikt sei ein »erster bewaffneter Schlagabtausch in diesem Krieg um eine zukünftige Weltordnung mit Russland und China im Fokus«. Lühr Henken vom Bundesausschuss Friedensratschlag bestätigt in seinem Beitrag, »dass Russland einer existenziellen Gefahr ohne Entrinnen ausgesetzt« war beziehungsweise ist.

Es folgen Beiträge zu den ökologischen Gefahren und Folgen des Ukraine-Krieges, dem neuen strategischen Konzept der Nato vom Juni 2022 (Übergang zur offenen Großmachtkonfrontation mit Russland und China), der Diskrepanz zwischen dem Völkerrecht und den »globalen Regeln der Nato«, zum Ukraine-Krieg im Kontext des globalen Agrarsystems und Hungerkrisen, der globalen Herrschaft des US-Dollars sowie dem Niedergang der OSZE. Es folgen Überlegungen der Schriftstellerin Daniela Dahn und des Theologen Eugen Drewermann, wie Frieden zu erreichen wäre. Letzterer leugnet, dass es sich bei der Nato um ein »striktes Verteidigungsbündnis« handele. Mit der Nato sei kein Frieden möglich, »weil er nicht sein soll«. Den Abschluss bildet ein höchst bemerkenswertes Interview mit der zunehmend übler angefeindeten Journalistin Gabriele Krone-Schmalz.

Bei allem überaus berechtigten Lob für den Band: Der Krieg in der Ukraine hat nicht am 24. Februar 2022, sondern mit dem nationalistisch-faschistischen Umsturz 2014 in der ukrainischen Hauptstadt, dem im selben Jahr von der Kiewer Regierung befohlenen Überfall auf die »Volksrepubliken« im Donbass und die Sabotage der Abkommen Minsk I und II durch die ukrainische Seite (vom Westen massiv unterstützt) begonnen. Solange dies nicht zum Ausgangspunkt genommen wird, bleiben viele Analysen ungenügend – mit verheerenden Folgen für die Aufklärung der Menschen ebenso wie zur Positionsbestimmung innerhalb der Linkspartei.

Ein ähnlich detailliertes wie bedrohliches Bild wie im Band von Gehrcke/Reymann zeichnet Jürgen Wagner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der renommierten Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI). Er ist beunruhigt, »dass es Deutschland mit seinen Weltmachtansprüchen zunehmend ernst zu nehmen scheint«. Der Autor liefert alle Argumente für eine konsequente Politik des Friedens und des Antimilitarismus – Karl Liebknecht wäre zufrieden. Für Wagner ist das »Sondervermögen Bundeswehr« nichts anderes als zu Liebknechts Zeiten die Kriegskredite. Dazu, auch an die Adresse mancher Linkspolitiker, noch einmal Sevim Dağdelen: »Was im Ersten Weltkrieg die Zustimmung zu den Kriegskrediten war, sind im Jahr 2023 die Rufe nach deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine.«

Wagner wertet zahlreiche, teils geheime Dokumente der Nato, der EU und der Bundesregierung aus. Ein offizielles Papier des Heeres der Bundeswehr skizziert sogar, wie man 2026 einen Landkrieg gegen Russland gewinnen will, einschließlich eines Informationskrieges an der »Heimatfront«. In diesem Buch, dessen Lektüre allerdings manchen »Militärverstand« voraussetzt, findet man den Nachweis, dass mit dem Aufrüstungsprogramm von 100 Milliarden Euro nur der Beginn des »Totalumbaus« der Bundeswehr eingeleitet werde – konzeptionell im Nato- und EU-Rahmen schon lange vor dem Februar 2022 vorbereitet.

Die neue, vor allem auch militärische Konfrontation mit Russland war über mehrere Jahre avisiert worden. Die Bevölkerung wird mit einer unglaublichen Medienkampagne unter der Überschrift der »Zeitenwende« hinters Licht geführt. All das folgt auf das weitgehende Scheitern der »Out-of-Area«-Einsätze, auf die auch künftig nicht gänzlich verzichtet werden soll. »Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung« müsse Deutschland »den Anspruch einer Führungsmacht haben«, ließ der Ko-Vorsitzende der SPD Lars Klingbeil vernehmen. Dafür wird auch in der Rüstungswirtschaft der Turbo eingelegt. Ein »Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland« vom Juli 2015, fünf Jahre darauf novelliert, stellte hierfür die Weichen. Mitfinanziert wird das Ganze durch rasant wachsende Rüstungsexporte, vor allem in Krisengebiete, die von 2004 bis 2021 auf 246 Prozent (!) stiegen.

Wagner beklagt sodann, dass die Regierenden »Rüstung statt Soziales« auf die Tagesordnung gesetzt haben. Auf marxistische Sozialwissenschaftler, vor allem auch aus der Volkswirtschaftslehre, kommt noch die Titanenarbeit des Nachweises zu, dass es künftig nicht nur um Sozial- und Wohlstandsabbau in Größenordnungen gehen wird. Vielmehr wird es in der Kombination von Konfrontationspolitik gen Ost und Fernost, Rüstungswahn, Klimakatastrophe, Demokratieabbau, Unterhöhlung des Anspruchs der Medien als »vierte Gewalt«, Energiekollaps, Wirtschaftsdepression, Rezession, Inflation, Zerrüttung des Finanzwesens, Desaster im Gesundheitswesen sowie Entmoralisierungsdruck auf die Gesellschaft zu einem hochexplosiven Gemisch kommen. Wagner warnt: »Der Countdown läuft – gegen die Zeitenwende zum Turbo-Militarismus!«

Es ist allerhöchste Zeit für die Friedenswilligen und Fortschrittskräfte aller Länder, sich endlich klar zu werden, in welcher höchst gefährlichen Phase der Weltentwicklung wir uns befinden, statt grundfalschen Losungen des politischen Gegners zu folgen.

Wolfgang Gehrcke/Christiane Reymann (Hg.): Ein willkommener Krieg? Nato, Russland und die Ukraine. Papyrossa, 231 S., br., 14,90 €.
Jürgen Wagner: Im Rüstungswahn. Deutschlands Zeitenwende zu Aufrüstung und Militarisierung, Papyrossa, 212 S., br., 16,90 €.

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