Was ist schon Herkunft?

Woher wir kommen und was wir sind: »Vaters Kiste«, ein Essay von Lukas Bärfuss

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

In der aktuellen Literatur wird viel biografisiert. Man blickt zurück, erzählt noch und nöcher von den Eltern und den Ahnen. Beinah wäre das Buch »Vaters Kiste« auch ein solches ermüdendes Familienalbum geworden. Aber eben nur fast! Denn dafür hat es Lukas Bärfuss viel zu intelligent durchkomponiert.

»Vaters Kiste« beginnt mit einer zufälligen Entdeckung auf dem Dachboden des Ich-Erzählers. Nun, so zufällig auch nicht: Als der Vater vor 25 Jahren als Obdachloser gestorben war, wurde dem Sohn diese Kiste als letzte Hinterlassenschaft aufgehändigt. Nun schaut er rein und findet allerlei Erinnerungsstücke. Sein Vater hatte das Leben eines Dauerschuldners geführt, das Andenken an ihn ist belastend: »Und ein Widerwille gegen die Herkunft befiel mich«, betont der Sohn und stellt klar: »nicht gegen meine eigene, nein, gegen die Idee der Herkunft als solcher, diese Obsession, sich über seine Vorfahren zu definieren«. Mit diesem Satz leitet der Büchnerpreisträger von 2019 in die grundsätzliche Dimension seines Textes über, der sich von der Anekdote zum Essay ausweitet.

Problematisiert wird darin unser Verständnis einer linear-genealogisch gewachsenen Welt. Man denke zunächst an den Familienstammbaum, aber ebenso an die Genese des Kapitalismus, in dem der Autor eine fragwürdige, ökonomische Übersetzung der Evolutionstheorie sieht. »Man hat, so scheint es, von Darwin viel gelernt, doch was er deskriptiv verstand, hat man normativ ins Werk gesetzt.«

Dabei habe auch der legendäre Naturforscher wiederum auf ein anderes geistiges Erbe zurückgegriffen, das subtil seinem Modell der Welt innewohne: »Wer die Natur als Königreich ansieht, wird sie dynastisch begreifen, als Herrschaft, er wird die Kämpfe um die Macht darstellen, und das hat Darwin getan, präzise, gültig. Aber die Natur hat keinen König, sie ist kein Reich, niemand herrscht, auch nicht der Mensch, obwohl dieser Glaube kaum auszurotten ist. Darwin, der Theologe, hat die christliche Herrschaft in eine andere, eine evolutionäre Herrschaft übersetzt.« Alles folgt aus etwas, aus einem angenommenen Gott oder einem zunehmenden gesellschaftlichen Konkurrenzdruck, bei dem der Stärkste sich durchsetzt. Und so entstand das bis heute gültige Narrativ des Erbens, das Fähigkeiten und Eigenschaften genauso wie Wohlstand und pekuniäre Mittel einschließt. Aber stimmt das überhaupt?

Anders als die Darwinisten argumentiert Bärfuss mit einem Zitat von Darwins Zeitgenossen, dem schottischen Essayisten und Historiker Thomas Carlyle: »Jedes einzelne Ereignis ist der Nachkomme nicht von einem, sondern von allen anderen Ereignissen, die vorher oder gleichzeitig stattfanden, und wird sich seinerseits mit allen anderen verbinden, um neue zu gebären: es ist ein […] ewig arbeitendes Chaos des Seins, in dem sich eine Form nach der anderen aus zahllosen Elementen herausbildet.«

Statt von einem evolutionären Prozess geht der Schweizer Autor von einem Nebeneinander verschiedener Prozesse aus. Dasselbe gilt für die Annahme einer Ordnung der Dinge. Ihr setzt er das Prinzip des Zufalls entgegen. Wo nichts vorherbestimmt erscheint, kann der einzelne Akt, ja, das individuelle Verhalten tatsächlich eine verändernde Wirkung entfalten.

Angewandt auf die Gesellschaft bedeutet dies: Wir müssen Individualität und Freiheit neu denken lernen. Dazu gibt dieses kleine Werk eine fantastische Anleitung, dessen Lektüre immer wieder geradezu epiphanische Momente gewährt.

Lukas Bärfuss: Vaters Kiste. Eine Geschichte über das Erben. Rowohlt. 96 S., geb., 18€

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