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Darf ich dich lecken?

Gar nicht so eindimensional: »Girls Girls Girls« entführt auf berührende Weise ins Gefühlschaos seiner jungen Heldinnen

  • Anna Gyapjas
  • Lesedauer: 4 Min.
In der Zwischenwelt der jungen Erwachsenen ist weibliche Solidarität heilsam.
In der Zwischenwelt der jungen Erwachsenen ist weibliche Solidarität heilsam.

Smoothies. Gebleichte Augenbrauen. Lasertag. Fast könnte man meinen, »Girls Girls Girls« hyperventiliere den Zeitgeist. Wäre da nicht der Titel, den die Älteren unter uns noch mit dem zutapezierten Sexshop um die Ecke assoziieren dürften. Oder die drei Heldinnen, die allesamt weiß sind. Der demografischen Vielfalt einer urbanen Gesellschaft wird der Coming-of-Age-Film also nicht gerecht. Somit reiht sich der dritte Spielfilm von Alli Haapasalo ein in die Erzähltradition von »Sex and the City« und »Girls«,die einst als wenig repräsentativ, also als nur bruchstückhaft feministisch kritisiert wurden. Neben »Sex Education« oder »Never Have I Ever«, den Stoffen von Streaminganbietern, die ebenfalls um Jugend und Sexualität kreisen, dabei aber offensiv divers besetzt sind, wirkt »Girls Girls Girls« fast schon altbacken.

Der Eindruck verflüchtigt sich auch nicht nach den ersten Minuten, in denen die Protagonistinnen so schematisch inszeniert werden, dass es fast schon Lehrbuchcharakter hat. Vorhang auf für Mimmi, den Trotzkopf aus unstabilen Familienverhältnissen: Das Floorballmatch im Sportunterricht sabotiert sie eher als mitzuspielen, aber statt sich den irritierten Mitspielerinnen zu erklären drischt sie lieber auf eine Kameradin ein. Rönköö, der Sonnenschein, ergänzt sie ideal als beste Freundin, aber natürlich brodeln auch unter ihrer offenherzigen Oberfläche literweise Unsicherheiten. Emma, die Angepasste, verfolgt fokussiert und leistungsstark ihren Traum vom Eiskunstlauf, bis Mimmi sie von ihrem Karrierekurs ablenkt und ihre Lust auf mehr weckt. Doch wer sich davon nicht abschrecken lässt, wird mit einer unvorhersehbaren Achterbahn der Gefühle belohnt.

Ehe man sich versieht, haben Aamu Milonoff (Mimmi), Eleonoora Kauhanen (Rönkkö) und Linnea Leino (Emma) die Zuschauenden um den Finger gewickelt. Die Zwischenwelt der jungen Erwachsenen erobern sie mal übermütig, mal verunsichert und vor allem Letzteres lässt sich dank ihrer Darstellungen so herzzerreißend nachfühlen, dass man sich im Nu zurückversetzt sieht in die eigene Teenagerzeit.

Erzählerisch klug hangelt sich der Film dabei von Freitag zu Freitag: Die Figuren werden entlang jenes magischen Tages entwickelt, an dem junge Menschen gesetzten Strukturen wie Schule und Familie entwischen, Pläne für das Wochenende schmieden und sich im schützenden Dunkel der Nacht vertraut machen mit den neuen Rollen, die die Gesellschaft für sie bereit hält.

Also was tun, wenn sich dieses Verlangen, von dem alle reden, nicht im eigenen Körper bemerkbar macht? Wenn die coolsten Sprüche die Auserwählte nicht beeindrucken, sondern in die Flucht schlagen? Wenn die Berufswahl keine Herausforderung darstellt, wohl aber die erste Liebe?

Während Haapasalos erster Langfilm 2016 von einer Amour fou erzählte, verhandelte ihr Episodenfilm für die Serie »Force und Habit« 2019 das Thema sexuelle Belästigung. Die Zwischentöne und Uneindeutigkeiten des weiblichen Alltags zelebriert sie auch in »Girls Girls Girls«. Nur, dass es diesmal deutlich mehr Anlass für Spiel, Spaß und Verwandlung gibt.

Etwa beim gemeinsamen Fertigmachen im Jugendzimmer der besten Freundin. Als Rönköös Partyoutfit nicht so richtig sitzen will, findet sie in Mimmis silbernen Paillettenkleid die perfekte Alternative. Natürlich darf später auch nicht der symbolische Entfesselungsmoment im Auto fehlen, im Vehikel in die eigene Freiheit. Dass dabei ein Lied im Radio aus vollem Halse mitgesungen wird, wie man es schon unzählige Male gesehen hat – geschenkt. Denn das wohl schönste Bild ist unbestreitbar jenes, in dem Mimmi den Konflikt, ach was, die Kernschmelze zwischen sich und Emma verwindet: Mit dem Rücken zur Kamera kauert sie auf der Schaukel eines verlassenen Spielplatzes. Vor ihr türmt sich eine grell ausgeleuchtete Baustelle – ihre Zukunft.

Während englischsprachige Produktionen häufig das Miteinander der Geschlechter fokussieren und Bewusstsein für sexuelle Übergriffe schaffen – Stichwort toxische Burschenschaften, Vergewaltigungen auf dem College-Campus oder die Verbreitung von Nacktfotos ohne Einverständnis der Abgebildeten –, kommen junge Männer in »Girls Girls Girls« kaum vor. Und wenn, dann nur um als Objekt weiblicher Begierde aufzutreten oder um Erlaubnis zu fragen. Darf ich dich berühren? Darf ich dich lecken? Solche Fragen kommen stellen die männlichen Randfiguren des Films so selbstverständlich, dass man inständig hofft, der Jugend von heute mögen sie ähnlich leicht über die Lippen kommen.

Und auch wenn nicht jeder Dialog den Bechdel-Test bestehen würde (wie auch: Erwachsenwerden bedeutet auch, sich im Machtverhältnis der Geschlechter zurechtzufinden und darüber zu sprechen): Es ist unerwartet berührend zu beobachten, wie die jungen Frauen mit ihren widersprüchlichen Gefühlen ringen und mit welcher Entschlossenheit sie über sich selbst hinauswachsen. Vor allem aber wurde selten so klar gezeigt, welch heilsame Oasen weiblicher Solidarität Mädchenfreundschaften sind, welchen Rückzugsort sie in einer plötzlich verwirrenden Welt darstellen und welch erholsame Stabilität junge Frauen jeglicher Demografie dort vorfinden.

»Girls Girls Girls«. Finnland 2022. Regie: Alli Haapasalo. Mit Aamu Milonoff, Eleonoora Kauhanen,Linnea Leino. 100 Minuten, bereits angelaufen

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