Existenzangst nimmt zu

Immer mehr Menschen wachsen ihre Schulden über den Kopf

Eigentlich sollte die Schuldnerberatung in Krisen ein Hoffnungszeichen setzen. Das meint jedenfalls Roman Schlag von der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV). Denn wer hier Hilfe und Rat sucht, für den gebe es wieder eine Perspektive. Dennoch nehmen die Mitarbeiter der Beratungsstellen im täglichen Geschäft gesellschaftliche Probleme besonders deutlich wahr. Schlag, der als Referent für Schuldnerberatung für die Caritas in Aachen tätig ist, verweist der Übersichtlichkeit halber auf drei Befragungen, die seit Sommer 2022 von der AG SBV unter den eigenen Mitgliedern durchgeführt wurden.

Schon im September 2021 vermerkten zwei Drittel der Beratungsstellen eine höhere Nachfrage als vor der Pandemie, bei einem Fünftel hatte die Nachfrage sogar um mehr als 30 Prozent zugenommen. Schon hier zeichnete sich eine Änderung ab: Viele Soloselbständige, Menschen in Kurzarbeit sowie Erwerbstätige kamen, Gruppen, die eine Schuldnerberatung zuvor eher selten in Anspruch genommen hatten. Laut der nächsten Umfrage im ersten Quartal 2022 stieg die Nachfrage weiter. Es meldeten sich noch einmal mehr Erwerbstätige, unter den drängenden Themen tauchten immer häufiger Miet- und Energieschulden auf.

Die aktuellste Umfrage stammt aus diesem Winter, und die zuvor bemerkte Entwicklung setzte sich fort. An dieser Erhebung beteiligten sich 460 Beratungsstellen. Mehr als 65 Prozent schätzen ein, dass die Nachfrage nach Terminen gestiegen ist. Der Anteil der Erwerbstätigen nahm weiter zu. »Das sind häufig Menschen, die zuvor mit ihren geringen Einkommen geradeso klarkamen«, schätzt Experte Schlag. Jetzt mache sich die Inflation bemerkbar. Der Anteil der Kurzarbeitenden sei wieder gesunken, ebenso die Zahl der Anfragen von Selbständigen. Thematisch wird am häufigsten, nämlich in mehr als der Hälfte der Fälle, Rat zur Pfändung von staatlichen Hilfen gesucht – also dazu, wie diese noch vermieden werden kann.

Auf dem zweiten Platz folgen Energieschulden, danach kommen mit 42 Prozent Bitten zur Budgetberatung. Maike Cohrs, Schuldnerberaterin der Diakonie in Köln, kann es nur begrüßen, wenn Menschen möglichst früh in die Beratung kommen: »Hier kann noch gemeinsam geschaut werden, welche finanziellen Verpflichtungen es gibt, wo Einsparmöglichkeiten oder eine zeitliche Verschiebung der Zahlung möglich wären.« Kommen Verschuldete spät, in einer Panikreaktion oder unter hohem Stress, steigt der Hilfebedarf stark an. Für die Beratungsstellen ist das ein Problem, eigentlich wollen die Mitarbeiter allen helfen.

Häufig gibt es Wartelisten für einen Termin, was schwierig ist, wenn etwa wegen Mietschulden schon die Wohnung geräumt werden muss. Aber viele Beratungsstellen arbeiten bereits am Limit. Die Finanzierung ist ein Flickenteppich, unterschiedlich nach Bundesländern, ebenso steht es um die Zugangsregeln. Deshalb fordert die AG SBV für das Thema schon länger ein bundesweit einheitliches Recht auf kostenfreie Beratung.

Spuren hinterlassen hat die Politik niedriger Zinsen. »Schulden zu machen, sei es bei der Finanzierung des Autos, der Wohnungseinrichtung oder des Smartphones, wird gesellschaftlich immer stärker akzeptiert«, erklärt Cohrs. Von in der Folge entstandenen Schulden seien insbesondere Jüngere oft überfordert, die Verbraucherdarlehen und Handyverträge oft unbedacht abschlössen.

Die Schuldnerberatung der Verbände umfasst 1400 gemeinnützige Beratungsstellen und hilft im Jahr im Schnitt 600 000 Ratsuchenden. Die Angebote werden von kirchlichen Wohlfahrtsverbänden wie Caritas und Diakonie, Arbeiterwohlfahrt, Paritätischem Wohlfahrtsverband und Verbraucherzentrale unterhalten.

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