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69 Corona-Tests in Folge
Eine Erinnerung an das Schlangestehen in Peking 2022
Als ich am 7. November 2021 von Berlin nach China zurückkehrte, flog ich von einem Land, in dem man mehr oder weniger vor der Corona-Pandemie kapituliert hatte, in eins, das damals als eines der wenigen weltweit an einer Zero-Covid-Politik festhielt. Wie diese Politik durchgesetzt wurde, war mir allerdings nur in Umrissen gewärtig. Natürlich wusste ich, dass ich eine strikte Hotelquarantäne zu absolvieren hatte, bevor ich nach Peking zurückkehren konnte. Wie diese sich konkret gestaltete, habe ich in dem Feldforschungsbericht »Quarantäne Updates Shanghai« (siehe »nd.DieWoche« vom 30.4.22) dokumentiert. Doch mir war nicht klar, wie der Alltag unter Zero-Covid-Bedingungen aussehen würde.
Das lag auch daran, dass sich kurz nach meiner Ankunft die Bedingungen in China verschlechterten. Nach der Eindämmung der Pandemie im späten Frühjahr 2020 hatten die Chinesen – von kleineren Ausbrüchen abgesehen – ein mehr oder weniger normales Leben geführt; die Delta-Variante des Coronavirus ließ sich mit den bis dahin ergriffenen Maßnahmen relativ problemlos kontrollieren. Das änderte sich, als Mitte Dezember 2021 die erste Omikron-Variante das Land erreichte, die deutlich ansteckender als Delta war. In der Folge beschleunigte sich das Ausbruchsgeschehen derart, dass sich die Behörden in einigen Städten und Regionen Chinas genötigt sahen, harte Lockdowns zu verhängen, so unter anderem auch ab Ende März 2022 für zwei Monate über Shanghai.
Dieser Lockdown war auch in den westlichen Medien ein großes Thema. Breit wurde über die Fehler der lokalen Behörden bei dessen Durchführung berichtet, und der Versuch, Menschenleben zu retten, nahezu durchweg als »Horror-Lockdown« (zum Beispiel »Berliner Morgenpost«), »Lockdown-Horror« (zum Beispiel »Die Rheinpfalz«) oder »Albtraum« (zum Beispiel »Taz«) denunziert. Dass es bei uns in Peking auch während des Omikron-Ausbruchs keinerlei Lockdown und nur mäßige Einschränkungen gegeben hat, davon erfuhr die westliche Öffentlichkeit allerdings fast nichts.
Ein flächendeckender Lockdown konnte in der Hauptstadt vermieden werden, weil hier – anders als in Shanghai – sehr früh Massen-PCR-Tests für die Bevölkerung angeordnet und die auf diesem Wege erkannten Infektionsfälle anschließend sofort isoliert wurden. Bereits Ende Januar und Anfang Februar wurden wir zusammen mit unserer gesamten Nachbarschaft insgesamt viermal durchgetestet. Anschließend ging das Leben weitgehend normal weiter. Allerdings gab es Reisebeschränkungen für diejenigen, die in einem Gebiet mit Infektionsfällen gewesen waren. Im Zweifel mussten sie länger warten, bis sie nach Peking zurückkehren durften. Deshalb entschlossen sich viele Pekinger, das Stadtgebiet vorsichtshalber nicht zu verlassen.
Die weitgehende Normalität endete Ende April, als sich die Omikron-Infektionsfälle zu häufen begannen, die nicht aus dem Ausland importiert waren. Am 25. April wurden 14 lokale Fälle gemeldet; die Behörden ordneten erneut Massen-PCR-Tests für sämtliche Bewohner unseres Innenstadtbezirkes an. Diese Tests sollten von nun an nicht mehr enden und – je nach Infektionslage – in einem Abstand von einem bis zu drei Tagen stattfinden. Ich selbst würde bis zum Tag meines Rückflugs nach Deutschland am 20. August genau 69-mal getestet worden sein, aber das wusste ich selbstverständlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Getestet wurde auf einem Platz rund 300 Meter von unserer Wohnung entfernt. Das war auch deshalb sehr praktisch, weil ich sehen konnte, wie lang die Testschlange war, wenn ich nur vor die Haustür trat. Nachdem sich eine gewisse Testroutine eingestellt hatte, bemerkte ich, dass die Schlange in der Mittagszeit am kürzesten war, sodass ich begann, mich kurz vor oder nach dem Mittagessen anzustellen.
Die Tests selbst liefen dann immer nach dem gleichen Schema ab: Das Testareal vor den Zelten bzw. Containern war mit Flatterband abgesperrt. Bevor man es betreten konnte, musste man mit seiner Health-Kit-App einen QR-Code scannen und sie einer Kontrollperson vorzeigen. Stand die App auf Grün, durfte man sich in die Testschlange einreihen. War es das nicht so, wurde man von dieser ausgeschlossen und musste sich stattdessen einem Test in den abgetrennten Fieber-Abteilungen der Krankenhäuser unterziehen. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass sich Infektionen beim Schlangestehen verbreiteten.
Die nächste Station war die Registrierung. Hier scannte ein Mensch die maschinenlesbaren ID-Karten der Chinesen, außerdem wurde die Handynummer notiert. Als Ausländer musste man seinen Pass vorzeigen; Pass- und Handynummer wurden vom Registrator per Hand in ein handyähnliches Gerät eingegeben. Nachdem sich nach einigen Wochen eine größere Testroutine eingestellt hatte, konnten Ausländer ihre Pässe auch zu Hause lassen. Das Vorzeigen des Health Kits genügte, da er auch die Passnummer enthielt.
Beendet wurde der ganze Vorgang mit dem eigentlichen Test, der in einem anderen Zelt bzw. durch ein anderes Containerfenster vorgenommen wurde: Dabei handelte es sich um einen schnellen Abstrich im Rachenraum – und keinen Mund-Nasen-Abstrich, wie man sie direkt nach meiner Ankunft in Shanghai vorgenommen hatte. Das beschleunigte die Testprozedur deutlich und reichte offenbar aus, um verwertbare Ergebnisse zu erzielen.
Weil die Health-Kit-App an die Handynummer gekoppelt ist, ließ sich das Testergebnis ohne Weiteres aufs Handy schicken. Das geschah in der Regel binnen 24 Stunden. Wer sich morgens testen ließ, hatte das Ergebnis häufig noch am selben Tag auf dem Handy, spätestens aber am nächsten Morgen. Meistens kam das Ergebnis mitten in der Nacht. War das Ergebnis negativ, blieb die Gesundheits-App grün. Fiel es positiv aus, hatte man sich sofort in Isolation zu begeben.
Dass nahezu alle Bewohner Pekings zu den Massentests erschienen, wurde dadurch gewährleistet, dass man ohne einen negativen Test vollständig vom öffentlichen Leben ausgeschlossen war. Wer keine grüne Gesundheits-App vorzeigen konnte, durfte kein öffentliches Gebäude betreten, keinen Supermarkt, keine Shoppingmall und natürlich auch keine Behörde. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte es sogar passieren, dass man Schwierigkeiten hatte, seine eigene Wohnanlage zu betreten, wenn man auf dem Handy keinen negativen PCR-Test vorweisen konnte. Dabei durfte der Test zunächst nicht länger als 48 Stunden zurückliegen, später maximal 72 Stunden (wobei vom Zeitpunkt der Übermittlung des Ergebnisses gezählt wurde). Das bedeutete konkret, dass jeder, der das – in Peking meist umfriedete – Grundstück verlassen wollte, auf dem seine Wohnung liegt, gezwungen war, sich regelmäßig testen zu lassen.
Es versteht sich von selbst, dass ich als Befürworter der chinesischen Zero-Covid-Politik nichts gegen die regelmäßigen Massentests einzuwenden hatte. Nur wer sehr früh Infektionen erkennt, kann einen Ausbruch im Keim ersticken und somit flächendeckende Lockdowns überflüssig machen.
Tatsächlich gab es in Peking keine Lockdowns, die über die Abriegelung einzelner Wohneinheiten oder kleinerer Viertel hinausgingen. Ein noch größerer Erfolg der Massentests aber ist, dass sie verhinderten, dass in Peking während des gesamten Testzeitraums auch nur ein Mensch an Corona starb. Bis heute sind in dieser Stadt mit 23 Millionen Einwohnern lediglich neun Menschen an Corona gestorben, und das auch nur zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, als erst wenige Erfahrungen hinsichtlich der Pandemiebekämpfung vorlagen. Dagegen erlagen vom 25. April bis zum 19. August 2022 im deutlich kleineren Berlin 279 Menschen dem Virus.
Ich empfand die Massentests auch nur selten als sonderlich störend. Geärgert haben sie mich nur, wenn es einmal deutlich länger dauerte. Das aber war selten der Fall. Sonst hatte ich das Testgeschehen sehr bald als nahezu selbstverständliche Routine in meinen Alltag integriert. Nach einer Weile begann ich sogar Gefallen an der Wartezeit in der Schlange zu finden. Während ich herumstand, konnte ich ungestört die Leute beobachten, die in meiner Nachbarschaft wohnen und arbeiten und die ich vorher nie in dieser Ballung zu sehen bekommen hatte. Ich studierte ihre Kleidung und die unterschiedlichen Wartehaltungen, las die Aufschriften auf den T-Shirts, versuchte die Angestellten aus den benachbarten Büros zu identifizieren oder freute mich über die Selbstverständlichkeit, mit der selbst Kinder – auf Inlinern, Skateboards oder mit Wasserpistolen – zu den Tests kamen.
Diese Veränderung meines Wahrnehmungsfokus schlägt sich auch in meinen Test-Fotos nieder. Ging es mir zunächst nur darum, den Testvorgang selbst und die involvierten Tester zu dokumentieren, habe ich später zusehends einzelne Menschen in der Warteschlange fotografiert: in der bequemen Sportswear- oder Freizeitbekleidung, die die chinesischen Großstädter ebenso tragen wie die Menschen in Hamburg und Berlin, wobei es die Chinesen vielleicht noch etwas offensiver tun; beim permanenten Aufs-Handy-Starren oder mit abgeklärtem, immer leicht gelangweiltem Blick, der in jeder Großstadt dieser Welt zur Grundausstattung der Bewohner zählt, um sich vor der Überforderung durch Außenreize zu schützen.
In seiner 1960 erschienenen »Theorie des Films« formulierte Siegfried Kracauer angesichts der von Edward Streichen konzipierten New Yorker Ausstellung »The Family of Man« eine ähnliche Hoffnung auf internationale Annäherung. Den ausgestellten Fotografien aus 68 Ländern sprach Kracauer die Fähigkeit zu, den Betrachter dazu zu bringen, die »Familienähnlichkeit« aller Menschen zu erkennen. So würden die Fotos dafür sorgen, dass wir globaler zu sehen beginnen: »Sie machen aus der Welt virtuell unser Zuhause.«
Ich glaube, dass das Erkennen dieser Familienähnlichkeit und der globale Blick angesichts der zunehmenden Konfrontation zwischen der westlichen Welt und China nötiger sind denn je, nicht zuletzt um einen wahrscheinlicher werdenden Krieg zu verhindern.
Eine längere Fassung dieses Beitrags erschien im Februar als Vorwort zu Christian Y. Schmidt: Corona Tests Beijing. Neunundsechzig Massentests in China, Hybriden-Verlag, 112 S., geb., 100 €.
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