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»Dieses Haus quengelt immer noch rum«

Vor bald 90 Jahren, am 16. März 1933, wurde die »Schule der Arbeit« von den Nazis beschlagnahmt. Die Künstlerin Ute Richter hat sich mit dem Leipziger Arbeiterbildungsprojekt auf verschiedene Weise auseinandergesetzt

  • Interview: Radek Krolczyk
  • Lesedauer: 10 Min.
Es gab in der »Schule der Arbeit« einen großen Saal für 120 Personen, zwei Klassenzimmer und eine Bibliothek im Erdgeschoss.
Es gab in der »Schule der Arbeit« einen großen Saal für 120 Personen, zwei Klassenzimmer und eine Bibliothek im Erdgeschoss.

Sie haben einen Film zur »Schule der Arbeit« gemacht, eine Reformschule der Arbeiterbildungsbewegung, die 1928 in Leipzig eröffnet wurde. Eine Publikation dazu ist mit dem Satz »Die Wirklichkeit, die zum Gedanken drängt« überschrieben. Was hat es mit diesem merkwürdigen Satz auf sich?

Interview

Ute Richter lebt als Künstlerin in Leipzig. Sie arbeitet zu Themen politischer Öffentlichkeit. 2017 erschien von ihr und Dietmar Dath »Der 15. Januar 1919 war ein Mittwoch« zum Herbarium von Rosa Luxemburg.

Es ist eine dialektische Figur, die auf Marx zurückgeht: Die Wirklichkeit drängt zum Gedanken und der Gedanke wirkt dann auf die Wirklichkeit zurück. Gertrud Hermes, die Gründerin der Schule, verwendet das Zitat 1932 auf dem Umschlag ihres Buches zu den Leipziger Volkshochschulheimen. Der Satz ist Ausgangspunkt für die Gründung der »Schule der Arbeit«. Die Menschen finden sich in einer Wirklichkeit wieder, die so unerträglich ist, dass man sich über sie Gedanken machen muss. Man muss sich dann aber auch Gedanken darüber machen, wie man sie verändern könnte, damit die Not abgeschafft wird. Ein Impuls, der in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg drängend war, aber sicherlich auch heute drängend ist.

Auch der Titel des Films selbst scheint auf so eine dialektische Figur zu verweisen: »Gertrud oder die Differenz«. Was könnte diese Differenz sein? Die Nähe zum Marx-Zitat ist offensichtlich. Vielleicht geht es um die Differenz zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte oder sollte?

Genau darin wird der Ansatz der Arbeiterbildung, so wie ihn Gertrud Hermes vertrat, grundsätzlich und politisch. Für den Film habe ich Zitate einer Umfrage verwendet, die das Leipziger Volksbildungsamt 1924 unter jungen Arbeitern durchgeführt hatte. Ein 18-jähriger Mechanikergehilfe sagt darin wörtlich: »Für den Arbeiter hat das Leben anscheinend gar keinen Sinn, er ist da, um zu arbeiten, möglichst recht lange, damit er abends keine Lust und Zeit hat, sich weiterzubilden. Seiner späten Ehe mögen recht viele Kinder entspringen, daß die Menschheit nicht ausstirbt, oder besser, daß billige Arbeitskräfte vorhanden sind.«

Solch ein Zitat, das auf eine elende und hoffnungslose Wirklichkeit verweist – selbst bei so jungen Menschen –, macht dann die Notwendigkeit einer möglichst großen Differenz greifbar.

Ja. Was in dem Zitat aber auch auftaucht, das ist die Bildung, die verwehrt wird. In der Bildung der jungen Arbeiter könnte die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Veränderung stecken. Das scheint der Mechanikergehilfe zu ahnen. In der Weimarer Republik war Arbeiterbildung keine Marginalie. Hinter ihr stand eine mächtige Bewegung.

Nun klingt der Name der Schule aber eher protestantisch und so gar nicht nach progressivem Umbruch.

Die »Schule der Arbeit« war ein Laborversuch. Hier sollten gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens und Arbeitens erprobt werden. Zwölf männliche Jugendliche lebten im Obergeschoss des Schulgebäudes etwa ein Jahr lang zusammen. Tagsüber gingen sie ihrer Lohnarbeit nach, an den Abenden und Wochenenden konnten sie gemeinsam lernen.

Konnten sie auf diese Weise Erfahrungen machen, die außerhalb ihres Arbeitstrottes lagen?

Ursprünglich war die Anbindung an Werkstätten oder Fabriken geplant. Was in der »Schule der Arbeit« erprobt werden sollte, war eine Idee von Teilhabe am Produktionsprozess. Das Lehrangebot war breit. Es ging um Wissen auf politischem, wirtschaftlichem und auch kulturellem Gebiet. Das war als Ermächtigung der jungen Arbeiter gedacht: um Produktionszusammenhänge zu verstehen, die Betriebe, in denen sie beschäftigt waren, selbst verwalten und über Produktionsprozesse selbst entscheiden zu können.

Was war neu an dieser Form der Bildung?

Neu war vor allem das gemeinschaftliche Lernen in einer überschaubaren Gruppe. Es gab eine Kontinuität in der Auseinandersetzung mit theoretischen und praktischen Problemstellungen. Man las auch gemeinsam Zeitungen und diskutierte die Tagespolitik. Das waren keine parteipolitischen Schulungen; das Ziel war der mündige Arbeiter.

Wie sah das konkret aus?

Nach einem Besuch am Bauhaus machten sich die Schüler daran, ihre eigenen Räume umzugestalten. Gardinen wurden abgenommen, es wurde über die neue Wandfarbe diskutiert. Das klingt vielleicht banal, ist aber eine schöne Geschichte darüber, wie ästhetische Bildung wirken kann. Für die Arbeiter war es ein selbstbestimmter Akt. Sie hatten eine Erfahrung gemacht und zogen jetzt Konsequenzen daraus. Gertrud Hermes nannte die »Schule der Arbeit« ein kulturpolitisches Institut. Fragen der Ästhetik spielten eine Rolle. Der moderne Bildungsansatz der Schule war ein Gegenbild zur toxischen Mischung aus Armut, Elend und autoritären Strukturen, denen man als Kind einer Arbeiterfamilie der Nachkriegsjahre ausgesetzt war.

Da liegt der Unterschied zu bürgerlicher Bildung?

Ja, es ging weder um Berufsqualifizierung noch um Begabtenförderung, sondern um das gemeinsame Lernen innerhalb einer Gruppe ohne Konkurrenz. Ein eigener Standpunkt wurde in der gemeinsamen Auseinandersetzung gebildet.

War die »Schule der Arbeit« eine Art Insel?

Sie war eher eine Verdichtung der Entwicklungen: Die Arbeiterbildungsbewegung war gerade in Leipzig sehr stark. Ab 1913 entstanden die städtischen Bücherhallen, das waren Bibliotheken, die sich speziell an Arbeiterinnen und Arbeiter richteten. Arbeiterbildung war zunächst auch gewollt. Man wusste, dass die verarmte Arbeiterschaft nur so in einen demokratischen Prozess eingebunden werden konnte. Der Stadtrat sah 1919 diese gesellschaftliche Notwendigkeit und stimmte für die Gründung eines Volksbildungsamtes, das 1922 unter der Leitung von Hermann Heller seine Arbeit aufnahm. Die Bewegung der Arbeiterbildung war in zahlreiche unterschiedliche politische Organisationen verwoben, darunter Parteien und Gewerkschaftsorganisationen. Und Heller gelang es organisatorisch, dieses breite Netzwerk der Volksbildung auch mit der Universität zu verknüpfen. Mit Gertrud Hermes kam eine erfahrene Pädagogin nach Leipzig, die hier 1923 das erste Volkshochschulheim gründete. Der Oberbürgermeister Karl Rothe unterstützte das Volksbildungsamt und die Gründung der »Schule der Arbeit«. Er vermittelte Kontakte zu den Sächsischen Ministerien für Kredite und finanzielle Förderungen und war bei der Grundstückssuche behilflich.

Gut, aber die Zeit der Schule war äußerst kurz: Im Oktober 1928 wurde sie eröffnet. Als 1930 der konservative Carl Friedrich Goerdeler Oberbürgermeister wurde, verschwand die Unterstützung; nach dem Überfall durch Nationalsozialisten am 16. März 1933 wurde die Schule geschlossen, das Gebäude beschlagnahmt. Auch die Anzahl ihrer Schüler ist überschaubar.

Das ist das Problem eines jeden Prototypen: Die Gefahr, dass er sich nicht durchsetzt, ist groß, auch wenn er gut ist. Da spielen äußere Faktoren eine wichtige Rolle.

Heute ist die »Schule der Arbeit« weitestgehend in Vergessenheit geraten. Ist es nicht merkwürdig, dass das Andenken an ein Projekt mit solch einem bildungspolitischen Einfluss so schmal ausfällt? Anfang des Jahres haben Sie die Leipziger Stadtgesellschaft an das Bildungsprojekt erinnert, indem Sie überall in der Stadt auf City-Light-Postern und Billboards historische Fotos des Gebäudes gezeigt haben.

Die Aktion fiel auf, denn der modernistische Bau, den Johannes Niemeyer entworfen hatte, ist in Leipzig gut bekannt. Aber niemand kennt seine Geschichte. Es ist ja ein sehr auffälliges Gebäude, mit einer starken Affinität zur reduzierten Ästhetik des Bauhauses. Wenn man es mit anderen Städten vergleicht, hat Leipzig nur wenige solche modernistischen Gebäude.

Was sind die Besonderheiten?

Niemeyer hatte es in enger Abstimmung mit Heller und Hermes entworfen. In der Architektur wurde der Bildungsansatz manifest: die Selbstlosigkeit des Einzelnen in den kleinen Schlafzellen, den Reichtum der Gruppe im großzügigen zentral gelegenen Gemeinschaftsraum mit den Oberlichtern. Außerdem war der Bau sehr gut ausgestattet. Es gab sogar fließend warmes Wasser! Daneben helle Innenräume, große Fenster, einen zentralen Müllschlucker, in die Wände eingefasste Schränke. Im Erdgeschoss befanden sich ein großzügiger Saal, eine Bibliothek und die Klassenzimmer – ideale Bedingungen für die demokratische Bildung von jungen Erwachsenen!

In Ihrem Film wirkt es so, als wechsele das Gebäude immer wieder seine Gestalt.

Das ist tatsächlich ein verzwicktes Ding, denn durch die unruhige Fassade sieht es von jeder Seite anders aus. Im Film führt Luise Ritter mit ihren animierten Zeichnungen durch das gesamte Haus und zeigt die unterschiedlichen Funktionen der Räume in beiden Geschossen. Aber ich sehe das Gebäude auch als eine Leerstelle. Es ist wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Im Film wird das an den animierten Modellzeichnungen deutlich. In dem Moment, in dem sich das Modell vor einer weißer Leinwand dreht und Einblicke in die Innenräume gewährt, wird mir diese Utopie bewusst. Und am Ende des Filmes wird die fiktive Wiedereröffnung der »Schule der Arbeit« bekanntgegeben. Diesmal mit begehbarem Dach, so wie es ursprünglich geplant war.

In Leipzig wusste kaum jemand, was es mit dem Gebäude auf sich haben könnte. Es war wie ein Gespenst aus der Vergangenheit, das plötzlich in der Stadt durch die City-Light-Poster präsent wurde. Es scheint so, als sei die »Schule der Arbeit« in Vergessenheit geraten, nachdem die Nazis sie geschlossen hatten. Wurde in all den Jahrzehnten nie an die Geschichte der »Schule der Arbeit« erinnert?

Mit der Schließung ging die Vernichtung sämtlicher Akten einher. Das macht eine Erinnerungsarbeit zunächst schwierig. Es haben aber aufschlussreiche Dokumente in Archiven und Bibliotheken überlebt. Die musste ich für meinen Film allerdings erstmal finden. Interessant bleibt, warum sich nach dem Ende des Faschismus die DDR als »Arbeiter- und Bauernstaat« nicht für dieses besondere Projekt der Arbeiterbildung interessierte. Der »mündige Arbeiter« war für die DDR offensichtlich nicht das Ziel. In der Fachliteratur der DDR wird Gertrud Hermes nur am Rande, als »Kultursozialistin« erwähnt. Was mich darüber hinaus sprachlos machte: Auch im Bestand des Museums für Geschichte der Leipziger Arbeiterbewegung war kein einziges Dokument, kein Foto der »Schule der Arbeit« zu finden. Es war bitter zu erfahren, wie wichtig Zeitzeugen für spätere Forschung sind.

Vielleicht war Gertrud Hermes nicht so leicht zu heroisieren. Das Gebäude aber hätte sich als Ikone angeboten.

Ich bin mir nicht sicher, ob es so gut gewesen wäre, wäre es zur Ikone geworden. Als Leerstelle erscheint es mir heute noch produktiv. Da sich seine Geschichte nicht erfüllt hat, quengelt dieses Haus immer noch rum. Deshalb ergibt es für mich Sinn, mit dem Film und den Billboards an seine Geschichte zu erinnern. Auf den Postern wirkte die geschlossene weiße Wand der Straßenseite des Gebäudes wie eine Projektionsfläche. Es ist die Frage, welche gesellschaftlichen Inhalte die heutige Stadtgesellschaft für ihre eigene Gegenwart und Zukunft darauf projiziert.

Im Film erfahren wir, dass die Stadt Leipzig direkt nach der Wende auf das Haus und seine Geschichte aufmerksam wurde. Woran lag es, dass das Interesse schnell wieder schwand?

Das ist dem absurden Verhältnis des Geldes geschuldet. Die Stadt erinnerte das Gebäude nach 1990 nur als Immobilie und forderte es vom Freistaat zurück. Danach wusste sie nichts damit anzufangen. Anfang 2000 brauchte die Stadt Geld und verkaufte es einfach, ohne sich weiter um seine Gestalt oder seine Geschichte zu kümmern. Das Erbe der Moderne, das in dem Gebäude steckt, wurde von der Stadt ausgeschlagen. Die gesellschaftliche Utopie des Arbeiterbildungsmodells von 1928 wurde 2004 in die Nutzung als »Eigenheim mit Einliegerwohnung« umgewidmet. Es ist jetzt Privateigentum, obwohl es ein öffentliches Interesse daran geben müsste. Absurd ist, dass man von diesem Verkauf nicht einmal besonders viel gehabt hat. Das Haus wurde sehr günstig verkauft.

Der Film »GERTRUD oder Die Differenz« zur »Schule der Arbeit« wird voraussichtlich bald auf Filmfestivals zu sehen sein. Das Projekt findet sich im Netz unter www.schulederarbeit.de. Ute Richters Website ist unter www.ute-richter.de zu erreichen.

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