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Skeptische Gegenwelt
Zwanzig Gemälde der Leipziger Malerin Doris Ziegler sind derzeit in der Moritzburg in Halle an der Saale zu sehen. Das Werk der Künstlerin berührt die
In der grandiosen, der ostdeutschen Kunst gewidmeten Leipziger Ausstellung »Point of No Return« war 2019 auch das »Passagen-Werk« von Doris Ziegler zu sehen. Nun stellt die Künstlerin erneut aus: 20 ihrer magisch-realistischen Bilder können derzeit im Rahmen der Ausstellung »ICH BIN DU!« im Kunstmuseum Moritzburg Halle bewundert werden. Kurator Paul Kaiser nennt Zieglers Kunst im Buch zu ihrem Werk eine »Synthese einer unterkühlt-neusachlichen Farbtonalität mit der Dimension einer weiblich-existentiellen Figurenmalerei«.
Herangereist ist aus der Schweiz ein mit dreißig Jahren Abstand entstandenes doppeltes Selbstporträt. Im titelgebenden Gemälde »Ich bin Du« wird in einem gespiegelten Doppelselbstbild Weibliches und Männliches miteinander vermählt in Klein-Paris – auch Leipzig genannt – vor dem Pantheon. 1988 suchte die weibliche Identität noch das Recht auf vollgültigen Anspruch. Doch bereits damals wies Kunst wie die von Rudolf Hausner, mit ihren Symbolfiguren, dem Weiblichen im Männlichen und dem Männlichen im Weiblichen, auf das zwischen den Geschlechterrollen changierende Wesen des menschlichen Individuums hin. Dies sollte bald geistiges Allgemeingut werden. Die These, dass manche Bilder heute gegenwärtiger sind als in ihrer Entstehungszeit, bestätigt sich etwa im Hinblick auf die Bilder von Wolfgang Mattheuer oder Werner Tübke, die von 1969 bis 1974 in der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig die Lehrer Zieglers waren, bevor sie dort selbst von 1989 bis 2014, ab 1993 als Professorin, im Grundlagenstudium lehrte.
Im Hinblick auf Androgynität und Geschlechterrollen bestätigt sich das auch bei Doris Ziegler selbst. Ihr Werk berührt mit dem in Demut gemalten Menschenbild, in der sich das Ich mit dem vielfältigen Du im harmonischen Wir entfaltet. Die soziale Situation führt von der Gegenwart in die Tradition der proletarischen Tischgesellschaft, wenn die Künstlerin im »Bildnis Nora, Uta, Samuel, Martin, Adrian, Tora, Till, Ben, Maria und Selbst« von 1982 einen runden Tisch mit Wasser und Wein auf eine Plagwitzer Straße setzt, mit befreundete Frauen und Kinder daran, aber keinen Mann, eine Gemeinschaft, in der sich alle freundlich und nicht hoffnungslos begegnen und der Bildbetrachtende mit Blicken als fiktiver Gast einbezogen wird. Und ein inneres Gespräch gleitet stumm wie die Papierflieger durch die Ruhe der düsteren Gegend im merkwürdigen geliebt-gehassten Zuhause, dem die Künstlerin als »Musizierender Engel in Plagwitz«, Gemälde von 1977, ein Ständchen bringt, ähnlich Rostropowitsch später an der Berliner Mauer. Das Bild »Pietà« würdigt 1990 mit dem toten Menschen die tote Stadt.
Zu einer Bühne der Vielschichtigkeit gesellschaftlichen Geschehens gestalten sich Zieglers Bilder aus den Leipziger Messe-Passagen, die jetzt Schauplatz der Konsumwelt geworden sind. Im melancholischen Grau zeigen die Passanten von »Passage II« (1988) und vom »Boot II« (1987) als das Gemeinsame den unangepassten Lebensstil und diverse individuelle Empfindungen. Vom ganzen Jammer angefasst, wird mit dem Horn zum Aufbruch geblasen, ein Instrument bleibt resigniert eingeschlossen, eine schwelgt in Erinnerung, Liebespaare umarmen sich, ein Schrei ertönt aus dem Mund der Kopfverletzten und Pierrot will mit fragendem Blick unsere Position wissen. Vielleicht wird auf die Ausreisegenehmigung gewartet, andere wollen wiederum nicht in die Geldgesellschaft.
In einer überlegt reduzierten Farbgebung und der von Werner Tübke übernommenen »Schichtenmalerei mit Harzöllasuren über einer basalen Temperaturuntermalung« (Katalog), mit überraschenden Blickwinkeln und Bildanschnitten erfasst das Werk Zieglers eine skeptische Gegenwelt. Will die freie Welt eine von Ausbeutung befreite Welt?
Frida Kahlo bringt in »Passage I« (1988) die Selbstbehauptung der Frauen ein, ihr zugeneigt, die Künstlerin als Pierrot, »nach innen gerichtet, verträumt«, wie sie Tübke beschreibt. Mit Zieglers »Symbolfiguren menschlichen Daseins« (Annika Michalski) verbindet sich poetischer und philosophischer Sinn. Dagegen schraubt der Kurator politisch vordergründig das »Passagen-Werk« zu einer Allegorie über die »Frage aller Fragen: [In der DDR] Bleiben oder Gehen« herunter. Darin geht es nicht auf.
Still und tief berührt das Selbstporträt mit Mutter, 1996, aus dem Zwischenreich von Verharren und Verschwinden des Lebens. Mit geschlossenen Augen spüren beide ein solches Miteinander, das etwas von »Ich bin Du« anklingen lässt. Zieglers Kunst führt zum »elementaren Nachdenken über die Frage, was der Mensch in der Welt ist« (Albert Schweitzer).
Dazu bricht als komplementäre Antwort mit Picasso über den Besucher in der parallelen größeren Ausstellung von Grafik, Keramik und Kostümen und Kulissen für Ballets Russes herein, im Gedicht des Künstlers: »(…) die Feder zeichnet mit der Farbe seiner Erinnerung seiner Regenbogenstimme und dem Duft von frittierten Sonnen (…)«
»ICH BIN DU! Doris Ziegler: Malerei«, bis zum 21. Mai 2023, Kunstmuseum Moritzburg Halle (Saale)
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