Marxismus kaleidoskopisch

Der Versuch von Walter Baier, mit den Klassikern auf Kurs zu steuern

  • Holger Politt
  • Lesedauer: 4 Min.
Allen Krisen zum Trotz: Der Marxismus ist unabgegolten.
Allen Krisen zum Trotz: Der Marxismus ist unabgegolten.

Er hat sich mit diesem Buch an eine Aufgabe gewagt, die andere von vornherein abgeschreckt hätte: Walter Baier, ehemaliger Vorsitzender der KPÖ und langjähriger Herausgeber ihrer Wochenzeitung »Volksstimme«. Aus Sicht des unübersichtlicher werdenden 21. Jahrhunderts will er eine konzentrierte Darstellung des Marxismus vorlegen; dessen Herkunft und Ausbildung zu verstehen, setzt allerdings Wissen um den europäischen Industrialisierungsprozess im tiefen 19. Jahrhundert voraus.

Baier geht von einem nicht abgegoltenen Marxismus aus, allen Krisen zum Trotze, die dieser seit der Entstehung durchlebt hat. Was einst die auf maschinelle Großindustrie fixierte Arbeiterbewegung gewollt habe, soll nun fortgesetzt werden mit einem breit gefächerten Netz linksgerichteter Formationen gesellschaftlicher Bewegung. Denn sobald die Eigentumsverhältnisse berührt werden, schält sich als Hauptgegner immer noch das System der kapitalistischen Ausbeutung heraus. Der Autor behandelt den Marxismus als eine »praktische Theorie«, ausgerichtet auf die – um mit Marx und Engels zu sprechen – »wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt«.

Zugleich wirft Baier relativierend wie alarmierend ein, dass sich die heutigen »Bewegungen nicht zu einem weltweiten Strom zur Überwindung des Kapitalismus« vereinigt hätten, obwohl die »Krise der Zivilisation ein universelles Ausmaß angenommen« habe. Die Frage, ob nicht elementare Voraussetzungen längst entschwunden sind, die einst die Quellen für die Entstehung der Marx’schen Theorie mitspeisten, stellt der Autor nicht.

Der Aufbau des Buches bleibt chronologisch, wobei innerhalb der großen Abschnitte mit der Zeitleiste freier gespielt wird. Da werden dann Papst Franziskus von der einen, Goethe oder Rousseau von der anderen Seite hinzugesetzt. Ob Karl Marx zum Marxisten avancierte, wie der Autor im Eingangskapitel unterstellt, oder aber eher aus ihm ungefragt ein Marxist gemacht wurde, soll hier offenbleiben. In den folgenden, den Themenkreisen Kapital und Lohnarbeit, Wirtschaft als Gesamtprozess sowie Monopolkapitalismus gewidmeten drei Kapiteln beweist sich Baier als gelernter Politökonom, wobei er überraschenderweise auch ein Gespräch zwischen Engels und Simone de Beauvoir hinzunimmt.

Etwas unvermittelt mutet das Kapitel »Marxismus und Kommunismus« an, in dem das Zepter an den russischen Theoretiker und Revolutionär Wladimir I. Lenin übergeben wird. Baier zielt auf Walter Benjamins These, wonach nichts die Sozialdemokratie »in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom«. Hier also die historische Rolle Lenins, der rechtzeitig aus dem Trott auszubrechen wagte. Die ab 1903 erfolgte Spaltung der russischen sozialdemokratischen Bewegung in Bolschewiki und Menschewiki wird eher positiv gesehen; Lenin habe so unter den russischen Bedingungen das Parteikonzept einer »sozialistischen Vorhutpartei« entwickeln können. Den umgekehrten Reim, dass die – von Rosa Luxemburg immer wieder scharf kritisierte – Spaltung der russischen Bewegung, an der Lenin gewichtigen Anteil hatte, ab 1917 in fatal-tragischer Weise in die Geschichte des europäischen Sozialismus hineinspielte, macht sich der Autor nicht.

Demzufolge fällt das anschließende, Lenins Weg zum Stalinismus gewidmete Kapitel zwiespältig aus. Zwar wird der Begriff des Marxismus-Leninismus als eine Erfindung aus stalinistischer Zeit zurückgewiesen, doch darf Lenin ungeschoren auf herausgehobenem Platz ausharren – der Stalinismus habe sich erst nach seinem Tod herausgebildet. Die sozialdemokratischen Lenin-Kritiker, auch wenn sie, wie beispielsweise die Austromarxisten, hier ausführlicher bemüht werden, bleiben immer dem Horizont bürgerlicher Demokratie verhaftet. Der Blick auf die geschichtliche Sackgasse, in die Lenins diktatorischer Sozialismus unweigerlich geriet, bleibt eigenartig verstellt.

Andererseits werden Stalins Verbrechen angeführt – »opferreichste Verfolgung von Kommunisten« –, Stalinismus wird überhaupt gefasst als eines der »politischen Großverbrechen in einer Reihe mit Faschismus und Kolonialismus«. Der inflationär gebrauchte Begriff des Totalitarismus wird indes schroff zurückgewiesen: »Mit diesem Begriff wurden alle kommunistischen Regierungen mit dem Stalinismus und dieser mit dem deutschen Faschismus in einen Topf geworfen.«

Der Untergang des sowjetisch geprägten Sozialismus wird im Kapitel »Das Schicksal des Kommunismus in Europa« abgehandelt. Zu spüren ist hier eine gewisse Fremdheit des Autors gegenüber den differenzierteren Entwicklungen im sowjetischen Machtbereich im Ostteil Europas nach 1945, zu sehr wird hier alles über den einen Leisten geschlagen.

Abschließend wird – unsere Zeit betreffend – über Sozialismus oder Barbarei nachgedacht: »Wer ist die Arbeiter*innenklasse des neuen Jahrhunderts?« Nun wird ein bunter Reigen der Entrechteten und Unterdrückten dieser Tage aufgemacht, die zusammengeführt für einen neuen Sozialismus stehen sollen. Da ist dann Engels schon mal dem modernen Klimaschutz verpflichtet, ebenso Rosa Luxemburgs berühmte fordernde Alternative aus der Zeit des Ersten Weltkriegs: Sozialismus statt Barbarei.

Der interessierte Leser steht auch wegen der mehr als 500 angeführten Zitate vor der einst von Walter Benjamin beschriebenen Aufgabe, aus dem Buch für den eigenen Zettelkasten das herauszunehmen, was dem Erkenntnisgewinn dient. Walter Baier, das sei am Schluss noch angefügt, ist seit Dezember letzten Jahres gewählter Präsident der Europäischen Linken, eines Zusammenschlusses mithin, der sich in großen Teilen immer noch in Marxens Zeichen handeln sieht.

Walter Baier: Marxismus. Geschichte und Themen einer praktischen Theorie. Mandelbaum, 312 S., br., 22 €.

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