Jewgeni Jewtuschenko: Meinst du?

Russland und der Krieg: Eine Erinnerung an den sowjetischen Dichter Jewgeni Jewtuschenko

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Auftritte Jewtuschenkos wurden zu Großereignissen in Konzerthallen und Sportpalästen, hier im Moskauer Lenin-Stadion, 1976.
Die Auftritte Jewtuschenkos wurden zu Großereignissen in Konzerthallen und Sportpalästen, hier im Moskauer Lenin-Stadion, 1976.

Meinst du, die Russen wollen Krieg?» AfD-Politiker zitieren die Liedzeile, wenn sie im Bundestag die russische Aggression wegzureden versuchen, links sich Positionierende zitieren sie, wenn sie eine «Russenhysterie» beklagen, die mit dem Beginn der «Spezialoperation» in Deutschland ausgebrochen sei. Diether Dehm gar singt sie, wenn er gegen die kriegerische Nato und den US-Imperialismus zu Felde zieht und sich dabei in eine sowjetische Fahne kleidet. Vermutlich wäre der Dichter Jewgeni Jewtuschenko, von dem diese Zeilen stammen – im russischen Original heißt es nur: «Wollen die Russen Krieg» –, von der breiten Rezeption seines Liedes beeindruckt gewesen.

1961 schrieb Jewtuschenko das Gedicht, als er schon einige gefeierte Auftritte in den USA und Westeuropa absolviert hatte. Als Stimme einer Generation, die den Aufbruch in eine neue Freiheit nach dem Ende des Stalinismus ausrief. Der Generalissimus und «Woschd» (Führer) des Weltproletariats starb am 5. März 1953 an den Folgen eines Schlaganfalls. 1956 wagte Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU, den Generalissimus in einer Geheimrede für seine Verbrechen an (lediglich) anderen Kommunisten zu kritisieren. Es brauchte bis zum XXII. Parteitag im Oktober 1961, ehe Stalins einbalsamierte Leiche aus dem Lenin-Mausoleum entfernt wurde und sein Name von Straßenschildern, öffentlichen Plätzen und Fabriken verschwand.

Jewtuschenko, 1933 in der Nähe von Irkutsk geboren, entstammte einer Familie mit polnischen, ukrainischen, belarussischen, litauischen, tatarischen und deutschen Wurzeln, die nach einem gescheiterten Bauernaufstand nach Sibirien deportiert wurde; beide Großväter wurden 1937 verhaftet. 1951 ging er nach Moskau, wo er trotz des Umstandes, dass er wegen «Unbotmäßigkeit» von der Schule geflogen war, ab 1952 am Gorki-Literaturinstitut studierte und jüngstes Mitglied des Schriftstellerverbandes wurde. Da hatte er sich bereits mit einigen Gedichten und Erzählungen und als «dichtender Reporter» einen Namen gemacht. 1957 wurde er aus dem Institut ausgeschlossen, des «intellektuellen jugendlichen Rowdytums» für schuldig befunden, zudem hatte er sich für Wladimir Dudinzews Roman «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein» eingesetzt. Ebenso stellte er sich vor den diffamierten und repressierten Dichter Boris Pasternak, der als einer der letzten überlebenden Dichter der sowjetischen Frühmoderne von der literarischen Jugend verehrt und dem die Ausreise zur Entgegennahme des Literaturnobelpreises 1958 verweigert wurde.

Die Auftritte Jewtuschenkos und seiner Dichterfreund*innen wurden zu Großereignissen in Konzerthallen und Sportpalästen. 1961 verfasste er das Poem «Babi Jar», das im September 1961 in der «Literaturnaja Gaseta» erschien und einen Aufruhr verursachte. Denn «Babi Jar» stand für die Nichtanerkennung des Genozids an den osteuropäischen Juden, die Verleugnung des grassierenden Antisemitismus in der sowjetischen Gesellschaft, das Verschweigen von Diskriminierung. Das Massengrab der Zehntausenden jüdischen Opfer sollte eiligst überbaut werden. Es war noch nicht allzu lange her, dass der «Führer des Weltproletariats» eine jüdische Ärzteverschwörung gegen ihn imaginierte, dass die Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees ab 1948 exekutiert und nach Schauprozessen im sowjetischen Einflussgebiet Juden als «wurzellose Kosmopoliten» verurteilt und hingerichtet wurden. Dmitri Schostakowitsch, der trotz seines internationalen Renommees immer in Furcht vor der Denunziation als «Kosmopolit» und «Formalist» leben musste, schrieb die Musik dazu, die «13. Sinfonie». Uraufgeführt wurde sie am 18. Dezember 1962, nach der zweiten Aufführung am 20. Dezember wurden Jewtuschenko und Schostakowitsch zu Textänderungen gezwungen, die die Beschreibung des Leides ins Allgemeine verwässern sollten. Andernfalls würde die Sinfonie verboten werden. Die Partitur mit dem Originaltext wurde erst 1970 veröffentlicht.

«Meinst du, die Russen wollen Krieg?» schrieb Jewtuschenko für den populären Schauspieler und Chansonnier Mark Bernes, der auch den Text überarbeitete. Bernes war 1958 von der «Prawda» und «Komsomolskaja Prawda» unmoralisches Verhalten und «vulgäre Kunst» vorgeworfen worden, zeitweilig hatte er Berufsverbot. Erst 1960 konnte er wieder Lieder für das Radio vortragen, darunter das zuvor verbotene «Feinde verbrannten die heimatliche Hütte». Wie jenes war das Lied der Versuch, statt des üblichen Heroismus das unfassbare Leid der Soldaten zu thematisieren, das durch das militärische und politische Versagen Stalins und seines Stabes mitverursacht worden war. Der Politführung der sowjetischen Armee war das Lied gleich verdächtig, es «befördere den Pazifismus» und würde «die sowjetischen Soldaten demoralisieren». Zu einem Verbot kam es aber nicht, zu groß war der Erfolg im Inland und der außenpolitische Gewinn, zumal es in mehrere Sprachen übersetzt worden war.

Als am 18. und 19. Februar 2014 die Staatsgewalt brutal gegen die Proteste auf dem Kiewer Maidan vorging, wandte sich Jewtuschenko mit einem Gedicht an das ukrainische Volk und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass «wir alle, Russen und Ukrainer, endlich Europäer werden» – eine klare Absage an den eurasischen Sonderweg byzantinischer Herrschaft. 2016 forderte die russische Zensurbehörde die Videoplattform Youtube auf, die Kommentarfunktion zu «Meinst du, die Russen wollen Krieg?» zu blockieren, Google wurde angehalten, das Lied aus den Suchergebnissen herauszufiltern. Seit dem 7. April 2022 ist das Video mit dem Lied für russische Besucher komplett gesperrt. «Meinst du, die Russen wollen Krieg?» Frag nach bei «Roskomnadsor», der russischen Bundesbehörde für Medienaufsicht.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -