USA: Proteste und Prothesen

Glanz und Elend des Gesundheitssystems der USA

  • Jana Talke
  • Lesedauer: 4 Min.

Howdy aus Texas liebe Leser*innen!

In Frankreich zünden sie Müll an, in Amerika verhören sie TikTok und in Deutschland sagen sich die Wulffs zum dritten Mal das Jawort. Solchen Enthusiasmus vermag ich gerade nicht aufzubringen, denn ich bin ständig krank und nur dazu fähig, pervers hohe Medizinrechnungen anzuhäufen. Sie lesen richtig, hier gibt es Rechnungen für ärztliche Dienstleistungen zu begleichen. Denn der Medizinsektor in den USA ist ein Business.

Es gibt keine gesetzliche Krankenkasse, stattdessen werden Bürger mit vielfachen und zugleich obernervigen Optionen überfordert, sich zu versichern oder auch nicht. Egal wofür man sich entscheidet, es wird richtig teuer, verwirrend und stressig. Sind Sie dazu bereit, es sich reinzuziehen? (Natürlich sind Sie das, denn wir Deutschen lieben nichts mehr als Beschwerden über andere Länder.)

Wenn man durch den Arbeitgeber versichert ist, entscheidet man sich oft für eine Art Paket – mit einer bestimmten Höhe an Selbstbeteiligung. Dieses Prozedere kennt man in Deutschland von den privaten Versicherungen, in den USA folgt darauf die Verunsicherung. Praxen, Kliniken und Notdienste sind allesamt in Netzwerke unterteilt, die eventuell von der Krankenversicherung abgedeckt werden oder eben nicht. Geht man aus Versehen in die falsche Notaufnahme, die beispielsweise ab einer bestimmten Uhrzeit ihren Status von einer Klinik zu einem »Emergency Room« wechselt, weil man meinetwegen gerade verblutet, so riskiert man, Tausende von Dollar loszuwerden – oder alternativ zu verbluten. Erreicht man seine Selbstbeteiligung, so kann man sich einen dicken Virus für Umme gönnen. Aber natürlich werde ich persönlich immer nur am Anfang des Jahres krank, wo ich gemäß meiner Versicherung für 80 Prozent der Behandlungskosten selbst aufkommen muss.

Und die Preise für medizinische Behandlungen sind einfach nur hanebüchen! Eine Entbindung auf amerikanischem Boden kostet durchschnittlich 18 865 Dollar (US-amerikanischer Pass inklusive), ein Hüftersatz 39 880 Dollar (vielleicht gibt’s deswegen so viele Rollatoren bei Walmart), eine Mandel-OP 5442 Dollar (dann kann Junior halt nicht mehr aufs College). Die Lösung für viele Amerikaner, vor allem solche, die nicht versichert sind oder ihren Job verloren haben? Ihre Rechnungen nicht bezahlen. Denn es gibt ironischerweise kein Gesetz, nach dem man Arztschulden begleichen müsste. Daher lassen Krankenhäuser mit sich feilschen wie Basare. Für diesen Prozess bin ich noch zu deutsch. Dann lieber doch nur öffentlich beschweren.

Auch das Apothekensystem ist ein irrsinniges. Statt eines Rezepts, das überall einlösbar wäre, ist jeder Patient an eine Apotheke gebunden. Hat sie etwas nicht vorrätig, am besten ein Kinderantibiotikum und am besten gleich abends, wenn die Arztpraxis schon geschlossen hat, dann ist man auf sich selbst gestellt, muss andere Apotheken abtelefonieren und die eigene bitten, das Rezept weiterzugeben. Natürlich bittet man nicht persönlich, sondern schreit am Telefon eine automatisierte Stimme an. Zum Glück versteht die kein deutsches Gefluche.

Aber einiges ist dann doch besser hier als in Deutschland (sorry!). Meine US-Ärzte sind innovativer und flexibler – sie machen bessere Tests, schlagen mehr Behandlungsmöglichkeiten vor und reagieren schneller. Unvergessen der deutsche Hautarzt, der, statt eine Parfümallergie bei mir zu diagnostizieren, sagte, ich solle mich nicht mehr schminken. Opa, warst du schon mal ungeschminkt im Club? Ich glaube nicht. In den USA bekam ich nicht nur schnell eine Diagnose, sondern auch eine Liste mit Kosmetika, die ich bedenkenlos nutzen kann. Leider frequentiere ich keine Clubs mehr, bin aber bei jedem Ausflug ins Gartencenter stark und parfümfrei angemalt.

Auch lange Wartezeiten wie in deutschen Praxen sind hier unbekannt. Wie ich drei Stunden beim deutschen Hals-Nasen-Ohren-Arzt herumsaß, nur um zu hören, dass ich meine Abwehrkräfte stärken solle und ein homöopathisches Nasenspray bekam! Hier kann ich meinen HNO anrufen (und zwar auch am Wochenende) und ein Antibiotikum anfordern, das er mir, ohne zu zögern, verschreibt. Nach meiner Sinus-OP gab er mir bereitwillig Opioide. Wenn ich’s mir recht überlege, ist das vielleicht der Grund, warum Amis nicht gegen ihr Gesundheitssystem protestieren.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.