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  • Ausstellung »Retrotopia. Design for Socialist Spaces«

Dem Menschen dienlich

Das Berliner Kunstgewerbemuseum lässt Designwelten der ehemals sozialistischen Länder Osteuropas auferstehen

Die Schrankwand: Ein Statussymbol auch in der Tschechoslowakei, aus der dieses Exemplar stammt.
Die Schrankwand: Ein Statussymbol auch in der Tschechoslowakei, aus der dieses Exemplar stammt.

Die Ausstellung »Retrotopia. Design for Socialist Spaces« im Berliner Kunstgewerbemuseum zu finden, ist gar nicht so leicht. Zumindest gilt das für den visuell beeindruckenderen Teil. Man muss, wenn man durch den Außeneingang des Museums gekommen ist und sich bereits den kleineren theoretisierenden »Archiv«-Teil der Schau angesehen hat, den langen Gang passieren, der das Kunstgewerbemuseum mit dem Hauptgebäude des Kulturforums verbindet. Dort weisen dann zwar einige Schilder die weitere Richtung, doch es kann durchaus passieren, dass man erst einmal im (hervorragenden Kuchen servierenden) Café landet. Hat man aber seinen Weg ins Untergeschoss gefunden, tut sich einem eine Pracht an Exponaten auf: Möbel aller Art, extravagante Gebrauchs- und Dekorationsgegenstände, Fenster aus buntem Glas; dazu Plakate, Fotografien und Videos.

All dies soll zeigen, in welchem ästhetischen Kosmos die Menschen in den ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas und in Jugoslawien lebten – welche Farben, Formen, Texturen und Bauweisen, kurz: welche Designs sie umgaben.

Zu diesem Zweck hatte das Kunstgewerbemuseum elf kuratorische Teams aus Tallinn, Vilnius, Warschau, Budapest, Prag, Brünn, Bratislava, Kyiv, Ljubljana, Zagreb, Eisenhüttenstadt und Berlin beauftragt, jeweils einen abgetrennten Bereich, eine sogenannte Kapsel, unter einem selbst gewählten Gesichtspunkt zu gestalten. Dabei ist jede Kapsel zweigeteilt, es gibt jeweils einen Teil für Designs in öffentlichen und privaten Räumen.

So geht es zum Beispiel in der Kapsel des Teams aus Tallinn um die Umgestaltung der estnischen Hauptstadt anlässlich der olympischen Segelwettbewerbe 1980, aber auch um die 1969 lancierte jährliche Ausstellung »Ruum ja Vorm« (Raum und Form), auf der innovative Möbel präsentiert wurden. Im »Retrotopia«-Begleitheft liest man hierzu, dass jene Schau »als Labyrinth aus massiven Sperrholzwänden gebaut war und aus unterschiedlichen Sichtachsen ganz verschiedene Ein- und Durchblicke in die einzelnen Räume gestattete«. Blickt man sich um, lassen sich auch im Kunstgewerbemuseum an Stellwänden vorbei Blicke in andere Kapseln erhaschen. Sie treten nicht isoliert auf, sondern wirken zusammen – eine gestalterische Lösung, die ihrem Gegenstand gerecht wird.

Faszinierend ist unter anderem die Kapsel des Prager Teams: Hier kann man eine ganze Wohnzimmer-Schrankwand aus tschechoslowakischer Zeit inspizieren. Auch sind ehemalige Einrichtungsgegenstände aus dem berühmten »Thermal«-Hotel in Karlovy Vary (Karlsbad) ausgestellt. Als das tschechische Architektenehepaar Věra Machoninová und Vladimír Machonin den Bau 1964 entwarf, galt sein brutalistischer Stil als wegweisend. Nach der Fertigstellung des Hotels 1977 entfaltete sich in seinem Inneren eine einzigartige künstliche Landschaft, bestehend zum Beispiel aus Lampen in Pilzform und einem gläsernen Brunnen, beides entworfen vom Künstler René Roubíček.

Das Team aus Kyiv indes nutzt die Ausstellung, um auf den seit der russischen Invasion andauernden Kriegshorror in der Ukraine aufmerksam zu machen. Es hat bunt gestaltete Glasfenster aus der Sowjetzeit zusammengetragen, unter anderem von dem Krankenhaus und Pionierlager Promenistik in Butscha, wo bekanntlich im letzten Jahr russische Soldaten schwere Kriegsverbrechen verübten – worauf dann auch im Begleitheft hingewiesen wird.

Sicherlich kann man es dem ukrainischen Team derzeit nicht verdenken, eine politische Botschaft vermitteln zu wollen – zumal Politik sich auch immer ästhetisch niederschlägt, die Gestaltung von Räumen und Gegenständen in einem Staat stets von der jeweiligen Herrschaftsform gekennzeichnet ist. Bedauerlich aber, dass kein russisches Team dabei ist. Nicht nur, weil auch auf russischem Gebiet der Sowjetunion bedeutende Designleistungen erbracht wurden, sondern auch, weil man so russischen Kuratorinnen und Kuratoren die Chance hätte geben können, sich ebenfalls (implizit) gegen den Krieg zu positionieren und zum Beispiel herauszuarbeiten, inwiefern bestimmte sozialistische Avantgarde-Designs den kulturellen Leitlinien unter Putin widersprechen.

1957 wurde mit dem Start des russischen künstlichen Erdsatelliten Sputnik eine historische Periode eingeleitet, die man heute als Space Age bezeichnet. In den 50er, 60er und frühen 70er Jahren sollten Architektur und Einrichtung, aber auch Mode und Popmusik den gesellschaftlichen Fortschrittsgeist und Glauben an die Technik verkörpern. Die Designs zeichneten sich oft durch runde, ausladende Formen aus, waren inspiriert von Weltall, Planeten, Raketen und Satelliten. Künstliche Materialien eröffneten dabei neue Möglichkeiten zur Gestaltung. Space Age-Designs waren allerdings sowohl im Osten wie auch im Westen populär. Und im »Retrotopia-Archiv« erfährt man, dass es durchaus einen regen internationalen Austausch der Designer gab. Sie trafen sich auf Messen und waren gemeinsam im ICSID (International Council of Societies of Design) organisiert.

Was war dann also besonders am Design für »sozialistische Räume«? Was war das Spezifische an der Gestaltung unter einer staatlichen Ideologie, die sich ja genau wie ihr westliches Gegenstück dem Fortschritt verschrieben hatte, nur unter anderen Vorzeichen? Zunächst gab es natürlich regionale und nationale Besonderheiten und Traditionen. So kann man sich im »Archiv«-Teil der Ausstellung zum Beispiel den »Sputnik-Samowar« des russischen Designers Konstantin Sobakin ansehen, der der traditionellen russischen Teemaschine eine planetarische Gestalt verlieh. Oder den Schmuck des litauischen Designers Feliksas Daukantas, der das neue synthetische Material Acrylglas mit dem in der litauischen Kultur traditionell geschätztem Bernstein verband.

Auch unterschied sich der Design-Diskurs im Osten von dem im Westen dahingehend, dass Gestaltung nach sozialistischer Weltanschauung zuallererst dem Menschen dienen sollte. Die zur Staatsdoktrin gewordene Kritik an Kapitalismus und Konsum verband sich mit der Suche nach neuen Formen.

Doch was unter Stalins Herrschaft tendenziell zur ästhetischen Vereinheitlichung führte, rief nach seinem Tod mitunter gleichsam das Gegenteil hervor: So gilt die »Offene Form«, wie sie vom polnischen Architekten und Künstler Oskar Hansen in der Tauwetter-Periode entwickelt wurde, als ein Schlüsselbegriff sozialistischen Designs. Nach Hansens Auffassung sollten sich Architektur und Möbel den individuellen Bedürfnissen des Menschen anpassen. Die Umgebung war für ihn nichts Abgeschlossenes, sondern ein Prozess: Jedes ihrer Elemente stehe mit allen anderen in Beziehung. Dem Menschen komme dabei eine aktive gestaltende Rolle zu. Bemerkenswert ist Hansens nicht realisierter Entwurf des sogenannten »Linear Continuous Systems«: Vier multifunktionale Siedlungsgürtel in Polen sollten nach seiner Vorstellung einen für alle Menschen gleichberechtigten Zugang zur Kultur und Natur schaffen – und so zu einer egalitären Gesellschaft beitragen.

In der »Retrotopia«-Ausstellung hat das kuratorische Team aus Warschau Oskar Hansen und der Innenarchitektin Teresa Kruszewska eine Kapsel gewidmet. Kruszewska designte im Sinne der »Offenen Form« unter anderem Möbelstücke, an denen Kinder den Gebrauch von variablen Systemen lernen konnten – zum Beispiel Hocker, die sich auf viele verschiedene Arten zusammenschieben lassen.

Nicht zuletzt unterschied sich Design für »sozialistische Räume« schon im Hinblick auf die Produktionsbedingungen von Design im liberalen Kapitalismus. Um zu erfahren, wie das genau aussah, kann man im »Archiv«-Teil der Ausstellung einen Blick in Periodika der staatlichen Institute werfen, die die Formgestaltung in den jeweiligen Ländern planten und überwachten. (In der DDR war das etwa das Amt für industrielle Formgestaltung, kurz AiF.) Es empfiehlt sich, in diesem Teil der Schau das aus etwas unscheinbaren DIN-A4-Zetteln bestehende Begleitmaterial zur Hand zu nehmen, da sich hier noch mehr Informationen als auf den beschrifteten Stellwänden finden.

Insgesamt werden in der »Retrotopia«-Ausstellung sicherlich nicht alle Aspekte sozialistischen Designs abgedeckt – schon allein, weil nicht alle ehemals sozialistischen Länder Osteuropas vertreten sind – doch es ist gelungen, bedeutende Konzepte, Entwicklungen und Persönlichkeiten auf visuell ansprechende Weise darzustellen.

»Retrotopia. Design for Socialist Spaces«, bis zum 18. Juli, Kunstgewerbemuseum, Berlin

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