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»Gesichter« von Tove Ditlevsen: In aufgepeitschtem Wasser
Durchgescheuert: »Gesichter« von Tove Ditlevsen ist der Roman einer Dünnhäutigen
Eine Frau verliert die Herrschaft über ihren Geist. Stimmen bedrohen und verhöhnen sie. So beginnt der Roman »Gesichter« von Tove Ditlevsen, der bereits 1968 in Dänemark erschien. Warum hat er diesen Titel? »Wenn man Menschen begegnete, die man seit Jahren nicht gesehen hatte, waren deren Gesichter verändert; fremd, gealtert, ohne, dass sie daran gehindert worden waren. Ihre Besitzer hatten nicht darauf achtgegeben, die Gesichter waren ihren schützenden Händen entglitten, die sie eigentlich über Wasser halten sollten wie Ertrinkende«, schreibt Ditlevsen.
Für Lise Mundus verzerren sich die Gesichter »wie Spiegelungen in aufgepeitschtem Wasser«. Sie ist Schriftstellerin und dreifache Mutter und hat eine Schreibblockade. Sie fürchtet die Nacht und sinniert am Tage über ihr Leben. »Lises preisgekröntes Buch war in elf Sprachen übersetzt worden, aber sie fand, der Wohlstand lähmte sie genauso sehr wie einst die Armut.«
Die dänische Journalistin, Schriftstellerin und Lyrikerin Tove Ditlevsen hat zu früh gelebt – von 1917 bis 1976. Ihre vor fünfzig Jahren geschriebenen Romane erzählen stets von ihr selbst, knapp, präzise und verstörend. Inzwischen haben Autor*innen wie Annie Ernaux, Didier Eribon, Karl Ove Knausgård oder Rachel Cusk das Fiktionalisieren des eigenen Lebens kultiviert, während das Werk ihrer Vorreiterin über den Umweg der Popmusik in den 1980er Jahren wiederentdeckt und noch ein Vierteljahrhundert später erst in den Literaturkanon ihrer Heimat aufgenommen wurde.
»Der Kindheit kann man nicht entkommen, sie hängt an einem wie ein Geruch«, schrieb Ditlevsen in ihrer autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie, die zwischen 1967 und 1971 in Dänemark erschien. In Deutschland war nur der dritte Teil 1994 bei Suhrkamp publiziert worden, Ursel Allenstein nahm sich der Neuübertragung an und der Aufbau-Verlag veröffentlichte 2021 die vollständige Trilogie: »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit«. Auch »Gesichter« übertrug Ursel Allenstein frisch ins Deutsche.
Lise Mundus, die in der dritten Person beschriebene Kinderbuchautorin, lebt ein scheinbares Idyll mit Ehemann Gert, den Kindern und Dienstmädchen Gitte. Der Schein trügt. Gerts Geliebte bringt sich mit Tabletten um und die lakonisch erzählte Entfremdung von Mann, Kindern und Freunden führt zu paranoiden Ängsten, einem Suizidversuch und schließlich in die Klinik. Der schmale Grat, der uns vom Abgrund der Depression und des Wahns trennt, ist Tove Ditlevsens Slakseil. Wie sie das Tänzeln darauf beschreibt, ist tragisch bis grotesk. »Sie ging zum Fenster und zog die Gardinen auf. Ein graues Licht drang ins Zimmer, und in den umliegenden Betten regte es sich. Etwas Zotteliges lugte unter der Bettdecke nebenan hervor, und eine Frau mit Eselskopf setzte sich auf und starrte sie mit feuchten Tieraugen an, deren Augäpfel ganz rot waren.«
Gerade die Szenen, die »unglaublich« erscheinen, decken sich, wie ihre Übersetzerin im Nachwort schreibt, oft mit den Ungeheuerlichkeiten in Tove Ditlevsens bewegtem Leben. Ursel Allenstein zählt neben dem untreuen Ehemann vor allem die (ohne das Wissen und die Einwilligung seiner Patien*innen durchgeführten) LSD-Experimente ihres behandelnden Arztes auf. Psychosen waren die Folge.
Das Schreiben war Tove Ditlevsens Therapie, bis einer ihrer Suizid-Versuche 1974 glückte. Tausende Menschen verabschiedeten die Schriftstellerin mit einem Trauermarsch durch Kopenhagen, wo sie im Arbeiterviertel Vesterbro aufgewachsen war. Versagt blieb ihr die Anerkennung der Literaturkritik und der dänischen Akademie, was sie in »Gesichter« mit Galgenhumor konterkariert, wenn sie Lise Mundus eben jenen (damals nicht existenten) Preis für Kinderliteratur verleiht. »Ihr Gesicht war aus dünnem Papier, das an mehreren Stellen durchgescheuert war. Darunter eiterte das Fleisch wie eine Wunde. Das kleinere Auge war starr und ausdruckslos und erinnerte an ein Glasauge.« Gut, dass wir Tove Ditlevsens Welt endlich betreten dürfen.
Tove Ditlevsen: Gesichter. A.d. Dänisch. v. Ursel Allenstein, Aufbau, 160 S., geb., 20 €.
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