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Der berühmte Unbekannte
Jan Philipp Reemtsma krönt seine Liebe zu Christoph Martin Wieland mit einer großen Biografie
Am 6. Oktober 1808, als in Erfurt der Fürstenkongress tagte, kam Napoleon für Stunden nach Weimar. Es gab eine Jagd auf dem Ettersberg, eine Theateraufführung und danach einen Ball. Christoph Martin Wieland hatte schon früh eine Einladung erhalten, aber er lehnte, »unter Vorschützung meiner Gesundheit«, ab. Doch Napoleon ließ nicht locker. Er wollte ihn am Abend unbedingt sehen. So blieb dem Fünfundsiebzigjährigen nichts anderes übrig, als sich, »ungepudert ohne Degen, u. in Tuchstiefeln«, in den entsandten Hofwagen zu setzen.
Als er da war, kam Napoleon sofort auf ihn zu. »Er sah, daß ich, meiner leidigen Celebrität zu Trotz, ein schlichter, anspruchsloser alter Mann war, und da er … auf immer einen guten Eindruck auf mich machen wollte, so verwandelte er sich augenblicklich in die Form, in welcher er sicher sein konnte seine Absicht zu erhalten.« Das Gespräch, fast allein vom Kaiser bestritten, zog sich hin, bis Wieland kurz vor zwölf fühlte, »daß ich das Stehen nicht länger ertragen könne. Ich nahm mir also die Freyheit heraus, deren sich schwerlich irgend ein anderer Deutscher oder Franzose unterstanden hätte: Ich bat Seine Majestät mich zu entlassen, weil ich mich nicht stark genug fühle, das Stehen länger auszuhalten. Er nahm es sehr gut auf.«
So schön und pointiert (mit Wielands Hilfe) ist die Weimarer Szene noch nicht erzählt worden. Auf der einen Seite Frankreichs Kaiser, der seine Hochachtung für den Dichter allen sichtbar bekundete und dessen Marschall Ney schon im Oktober 1806 nach der Schlacht von Jena und Auerstedt dafür zu sorgen hatte, dass man ihn vor Übergriffen schützte, und auf der anderen der selbstbewusste Bürger, ein bisschen stolz, weil Napoleon »so freundlich und grazios gegen mich war«, und zugleich auf bemerkenswerte Weise unbeeindruckt. Friedrich Sengle, dessen Biografie von 1949 bis heute ohne ernsthafte Konkurrenz blieb, hat der Begegnung gerade einmal ein paar Zeilen gewidmet. Jan Philipp Reemtsma macht daraus in seiner neuen Biografie eine köstliche Episode.
Eine Wieland-Biografie wie diese hat man sich schon lange gewünscht und dabei gehofft, er, Reemtsma, würde sie schreiben. Es gibt, vor allem in Biberach, manchen verdienstvollen Wieland-Enthusiasten, aber keinen, der sich seit Jahrzehnten mit so viel Hingabe und Leidenschaft, auch derartigem finanziellen Einsatz für Autor und Werk stark gemacht hat. Reemtsma begann gleich groß und brachte im Oktober 1984 gemeinsam mit dem Verleger Franz Greno Johann Gottfried Grubers Ausgabe der »Sämmtlichen Werke« von 1827 im Reprint heraus, 15 Bände in dunkelblauem Leinen mit Grubers Biografie zum Schluss, gedruckt auf dünnem Papier und verbreitet in 10 000 rasch verkauften Exemplaren. Danach sorgte er für Einzelausgaben der Romane, Prosaarbeiten und Aufsätze, erst bei Greno, dann bei Haffmans und Insel. Neuerdings setzt er sein Engagement mit einer großen Edition bei Wallstein fort. Und es war, wen wundert’s, auch Reemtsma, der sich des vernachlässigten Wielandguts in Oßmannstedt erbarmte und die attraktive Gedenkstätte schuf, die es in Weimar, wo sich alles um Goethe und Schiller dreht, nicht gibt. Im vorigen Jahr hat er dort auch die neue Dauerausstellung eingerichtet.
1988, als seine dreibändige Auswahl der politischen Schriften des Dichters fertig war und nur noch die notwendige Einführung fehlte, gab es für alle, die mit dem Projekt beschäftigt waren, eigentlich nur einen, der sie liefern konnte. Aber Reemtsma traute sich nicht. Er sei der Mann, meinte er, der Dinge in Gang setze, doch selber schreiben? Dabei wusste er, dass das meiste, was man über den politischen Wieland lesen konnte, »hanebüchenes Zeug« war. Also machte er sich selber ans Werk. Und schenkt uns nun auch die neue Biografie. Es ist, nach Gruber und Sengle, erst die dritte Lebensbeschreibung von Rang, und das Schöne ist: Reemtsma macht aus seiner Liebe zu Wieland, unterstützt von Fanny Esterházy, ein großes, temperamentvoll geschriebenes, sprachlich geschliffenes und fesselndes Buch.
Noch nie ist über diesen Autor mit so viel Detailwissen, so umfassend und elegant berichtet worden wie auf diesen siebenhundert Seiten. Hier wird ein Leben, von dem die Wenigsten heute wissen, zum Ereignis. Dabei ging es in diesem Leben nicht mal besonders ereignisreich zu. Geboren 1733 in der Nähe des schwäbischen Biberach, hat Wieland als Hauslehrer in Zürich und Bern gearbeitet, er war Senator und Kanzleiverwalter in Biberach, ehe Erfurt ihn zum Schmuck mit einer (bald ungeliebten) Professur an der Universität bedachte. Dann, 1772, die Wende mit der Berufung als Prinzenerzieher durch die früh verwitwete Herzogin Anna Amalia nach Weimar. Da war er als Schriftsteller schon eine Instanz.
Noch bei Sengle ist Wieland der ewige Vorläufer, der Mann, der den Boden bereitete für die Weimarer Klassik. Er war jedoch mehr, war neben Lessing der Erfinder der modernen deutschen Literatur, schreibt Reemtsma. Und folgt den Jahren Wielands Schritt für Schritt, schildert seinen Weg zum Ruhm, die Zeit in Weimar und Oßmannstedt, blickt auch auf die Frauen an seiner Seite, die Verlobte Sophie Gutermann (die spätere Sophie von La Roche), Julie Bondeli, die umschwärmte Intellektuelle aus der Schweiz, und Anna Dorothea Hillenbrand, »eines der vortrefflichsten Geschöpfe Gottes in der Welt«, auch wenn sie in 36 Ehejahren kaum etwas las, was er geschrieben hat.
Ein paarmal wird die Erzählung unterbrochen, um in gesonderten Kapiteln Werk und literarische Verdienste zu würdigen. Als Erster übertrug Wieland Shakespeares Stücke ins Deutsche, er gab eine einflussreiche politische Zeitschrift heraus, den »Teutschen Merkur«, das Organ der Aufklärung, übersetzte Horaz, Lukian und Cicero und offenbarte als Autor eine staunenswerte Vielseitigkeit, Grazie und Witz. Er schrieb Singspiele, Verserzählungen, Gedichte, Märchen in Versen und Prosa, war Publizist und Romancier und hat der deutschen Sprache eine Biegsamkeit und Modernität verschafft, auch durch Wortschöpfungen (harmonisch, Milchmädchen, Steckenpferd, Weltall), die sie vorher nicht hatte. Drum wird aus gutem Grund immer wieder auf die Schönheit, den Glanz seiner Schöpfungen hingewiesen. (Schon vor Jahrzehnten hat Hans Mayer in einem Aufsatz über Wielands »Oberon« die Beglückung durch eine Sprachkunst gerühmt, »die sich vergleichen läßt der Wirkung großer Suiten und Symphonien«.)
Das 19. Jahrhundert wollte von Wieland kaum etwas wissen. Er hatte nichts geschrieben, womit das großmannssüchtige Deutschland protzen konnte. Und danach waren es Wenige, die für den berühmten, aber total unterschätzten Autor warben. Einer seiner größten Bewunderer war Arno Schmidt, ein Schriftsteller. Er setzte ihn wieder ins Licht, feierte vor allem den Altersroman »Aristipp und einige seiner Zeitgenossen« und fand im jungen Jan Philipp Reemtsma später einen Wieland-Leser, der, ebenso fasziniert, über das Buch (»eines der ganz großen Leseerlebnisse meines Lebens«) promovierte, es von A bis Z im Rundfunk vorlas und es jetzt auch mit Bedacht an den Anfang der hochwillkommenen Studienausgabe gestellt hat, die wesentliche Werke Wielands, bestens kommentiert und mit Nachworten versehen, zugänglich machen will. In seiner Biografie zitiert Reemtsma den ersten Absatz dieses mehrstimmigen Briefromans um Aristipp von Kyrene, einem Schüler des Sokrates, und zeigt, wie wunderbar entspannt das Buch beginnt und mit welch immenser Vertrautheit und heiterer Gelassenheit hier die Welt der Antike betrachtet wird.
In seinem Buch gehe es darum, schreibt Reemtsma zum Schluss, »ein Werk wieder lesen zu lernen und damit den Sinn für die Wahrnehmung spezifischer Schönheiten zu gewinnen, die nun einmal besonders in diesem Werk zu finden sind«. Er will zu Wieland nicht überreden, sondern erzählt eindrucksvoll, warum man ihn kennen sollte, und er hat, als Autor immer sichtbar, dafür einen erstaunlich frischen, manchmal auch saloppen Ton gefunden. »Ich lese das so«, sagt er etwa. Oder er fällt dem jungen Wieland auch schon mal ins Wort, wenn der einer Angebeteten im Brief über katholische und protestantische Taufe doziert. »Man möchte sagen: Halt ein um Gottes willen!« schreibt Reemtsma dann, wie er auch sonst die Augen vor Wielands Launen und Schwächen nicht verschließt.
Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur, C. H. Beck, 704 S., geb., 38 €.
Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, hg. von Hans-Peter Nowitzki und Jan Philipp Reemtsma, Wallstein, 978 S., geb., 48 €.
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